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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Deutsche Kunstgeschichte nnd Deutsche Geschichte
reichs oder Italiens weiterentwickelte. Was dann die Kunst für
ihren zweiten, oder wenn man will obersten Beruf, die Vermittlung
religiöser Vorstellungen, geleistet hat, ist noch nie zusammen-
hängend untersucht worden; eine wissenschaftlich nicht leichte
Aufgabe, aber Aufschlüsse verheißend, die auf keinem anderen
Wege gewonnen werden könnten. -- Nun folgt das staufische
Zeitalter und gibt das schönste Beispiel von dem, was durch
Kulturgemeinschaft gewonnen werden kann. Der deutsche Kunst-
organismus öffnet seine Poren durstig nach allen Seiten. Von
Byzanz, von Italien, vor allem von Frankreich wird viel gelernt,
doch so, daß alles Erworbene wieder zur Entbindung und Er-
höhung der eigenen Kräfte dient. Das glückliche 13. Jahrhundert
ist das einzige in unserer Geschichte, in dem alle künstlerischen
Kräfte gleichmäßig tätig waren: die Baukunst, die Bildhauer-
kunst, die Malerei und ihnen das Gleichgewicht haltend, die Dicht-
kunst. Es ist das am meisten ästhetische Jahrhundert, das wir
erlebt haben. Die Ursachen, weshalb schon vor seinem Ende die
hohe Stimmung wieder sank, weshalb die Kunst akademisch
erstarrte oder handwerklich verflachte, sind gewiß zu finden,
aber nur für den, der die Geschichte der Zeit nach allen Seiten
übersieht, und eben hier, wo die ästhetische Teilnahme erkaltet,
wird die historische erst recht lebendig. -- Die neue Blütezeit,
von 1430 etwa bis 1530, ist der des 13. Jahrhunderts durchaus
unähnlich. Mit einer Einheitlichkeit und physiognomischen Schärfe,
wie auf keinem anderen Beobachtungsfelde, macht die Kunst die
innere Wandlung der Nation offenbar. Sie ist demokratisch ge-
worden. Zu großen typischen Stilschöpfungen ist die Zeit nicht
angetan, es ist die drängende Wirklichkeit des Lebens, mit der sie
jetzt auch künstlerisch sich auseinanderzusetzen hat. Damit treten
die Bildkünste an die Spitze der Bewegung, während die alte
Königin im Reiche, die Architektur, beiseite steht und nichts als
ihre alten Schläuche für den neuen Wein zu bieten hat. Niemals
vorher oder nachher hat im deutschen Volke, und zwar so, daß in
ausgeprägtester Weise die mittleren und unteren Schichten den
Ton angeben, ein ähnlich überschwengliches Verlangen nach Kunst
sich Luft gemacht. Man denke beispielsweise nur an die eine

Deutsche Kunstgeschichte nnd Deutsche Geschichte
reichs oder Italiens weiterentwickelte. Was dann die Kunst für
ihren zweiten, oder wenn man will obersten Beruf, die Vermittlung
religiöser Vorstellungen, geleistet hat, ist noch nie zusammen-
hängend untersucht worden; eine wissenschaftlich nicht leichte
Aufgabe, aber Aufschlüsse verheißend, die auf keinem anderen
Wege gewonnen werden könnten. — Nun folgt das staufische
Zeitalter und gibt das schönste Beispiel von dem, was durch
Kulturgemeinschaft gewonnen werden kann. Der deutsche Kunst-
organismus öffnet seine Poren durstig nach allen Seiten. Von
Byzanz, von Italien, vor allem von Frankreich wird viel gelernt,
doch so, daß alles Erworbene wieder zur Entbindung und Er-
höhung der eigenen Kräfte dient. Das glückliche 13. Jahrhundert
ist das einzige in unserer Geschichte, in dem alle künstlerischen
Kräfte gleichmäßig tätig waren: die Baukunst, die Bildhauer-
kunst, die Malerei und ihnen das Gleichgewicht haltend, die Dicht-
kunst. Es ist das am meisten ästhetische Jahrhundert, das wir
erlebt haben. Die Ursachen, weshalb schon vor seinem Ende die
hohe Stimmung wieder sank, weshalb die Kunst akademisch
erstarrte oder handwerklich verflachte, sind gewiß zu finden,
aber nur für den, der die Geschichte der Zeit nach allen Seiten
übersieht, und eben hier, wo die ästhetische Teilnahme erkaltet,
wird die historische erst recht lebendig. — Die neue Blütezeit,
von 1430 etwa bis 1530, ist der des 13. Jahrhunderts durchaus
unähnlich. Mit einer Einheitlichkeit und physiognomischen Schärfe,
wie auf keinem anderen Beobachtungsfelde, macht die Kunst die
innere Wandlung der Nation offenbar. Sie ist demokratisch ge-
worden. Zu großen typischen Stilschöpfungen ist die Zeit nicht
angetan, es ist die drängende Wirklichkeit des Lebens, mit der sie
jetzt auch künstlerisch sich auseinanderzusetzen hat. Damit treten
die Bildkünste an die Spitze der Bewegung, während die alte
Königin im Reiche, die Architektur, beiseite steht und nichts als
ihre alten Schläuche für den neuen Wein zu bieten hat. Niemals
vorher oder nachher hat im deutschen Volke, und zwar so, daß in
ausgeprägtester Weise die mittleren und unteren Schichten den
Ton angeben, ein ähnlich überschwengliches Verlangen nach Kunst
sich Luft gemacht. Man denke beispielsweise nur an die eine

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[71/0085] Deutsche Kunstgeschichte nnd Deutsche Geschichte reichs oder Italiens weiterentwickelte. Was dann die Kunst für ihren zweiten, oder wenn man will obersten Beruf, die Vermittlung religiöser Vorstellungen, geleistet hat, ist noch nie zusammen- hängend untersucht worden; eine wissenschaftlich nicht leichte Aufgabe, aber Aufschlüsse verheißend, die auf keinem anderen Wege gewonnen werden könnten. — Nun folgt das staufische Zeitalter und gibt das schönste Beispiel von dem, was durch Kulturgemeinschaft gewonnen werden kann. Der deutsche Kunst- organismus öffnet seine Poren durstig nach allen Seiten. Von Byzanz, von Italien, vor allem von Frankreich wird viel gelernt, doch so, daß alles Erworbene wieder zur Entbindung und Er- höhung der eigenen Kräfte dient. Das glückliche 13. Jahrhundert ist das einzige in unserer Geschichte, in dem alle künstlerischen Kräfte gleichmäßig tätig waren: die Baukunst, die Bildhauer- kunst, die Malerei und ihnen das Gleichgewicht haltend, die Dicht- kunst. Es ist das am meisten ästhetische Jahrhundert, das wir erlebt haben. Die Ursachen, weshalb schon vor seinem Ende die hohe Stimmung wieder sank, weshalb die Kunst akademisch erstarrte oder handwerklich verflachte, sind gewiß zu finden, aber nur für den, der die Geschichte der Zeit nach allen Seiten übersieht, und eben hier, wo die ästhetische Teilnahme erkaltet, wird die historische erst recht lebendig. — Die neue Blütezeit, von 1430 etwa bis 1530, ist der des 13. Jahrhunderts durchaus unähnlich. Mit einer Einheitlichkeit und physiognomischen Schärfe, wie auf keinem anderen Beobachtungsfelde, macht die Kunst die innere Wandlung der Nation offenbar. Sie ist demokratisch ge- worden. Zu großen typischen Stilschöpfungen ist die Zeit nicht angetan, es ist die drängende Wirklichkeit des Lebens, mit der sie jetzt auch künstlerisch sich auseinanderzusetzen hat. Damit treten die Bildkünste an die Spitze der Bewegung, während die alte Königin im Reiche, die Architektur, beiseite steht und nichts als ihre alten Schläuche für den neuen Wein zu bieten hat. Niemals vorher oder nachher hat im deutschen Volke, und zwar so, daß in ausgeprägtester Weise die mittleren und unteren Schichten den Ton angeben, ein ähnlich überschwengliches Verlangen nach Kunst sich Luft gemacht. Man denke beispielsweise nur an die eine

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/85>, abgerufen am 27.11.2024.