Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

Bild:
<< vorherige Seite

Das ablaufende Jahrhundert hat keinem Gebiet der
Kunstgeschichte mehr Liebe und Arbeitseifer zu-
gewandt als der Renaissance. Das Schlußergebnis
aber muß ein seltsames genannt werden. Es ist
Infragestellung des Grundbegriffes. Immer mehr
Stimmen werden laut, die ihn dringend der Reform für bedürftig
erklären; es sei ein unvollständiger Begriff gewesen, womit wir
uns bisher behalfen; er müsse inhaltlich tiefer genommen und
darum auch in seinen historischen Grenzen weiter gefaßt werden1).

Der hiermit für überlebt erklärte Begriff war ausgegangen
von der Umwälzung der Architektur unter dem Einfluß der
Antike; dann wurden die Schwesterkünste angeschlossen; endlich
als gemeinsamer Untergrund eine spezifische Renaissancekultur
entdeckt. Alles dies Erzeugnis und Eigentum des modernen
italienischen Geistes, aber mannigfach gefärbt durch die "Wieder-
geburt des Altertums", was hier in Italien jedoch nichts anderes
war als das Zurückgreifen auf die nationale Vergangenheit. Später
trat noch eine deutsche, französische usw. Renaissance hinzu,
als Umbildung der nordischen Kunst und Kultur unter italienischem
Einfluß. Wie man sieht, läßt diese Begriffsbildung an innerer
Präzision und straffer, konzentrischer Fügung nichts zu wünschen
übrig. Etwas ganz anderes ist diejenige "nordische Renaissance",
von der man seit 10--15 Jahren bei uns zu sprechen begonnen hat.
Sie soll gerade das selbständige Erwachen des modernen Geistes
in der Kunst der germanischen Völker -- von den van Eycks an
oder, wie neuestens behauptet wird, noch früher -- bedeuten und
die neugeschaffene Gesamtrenaissance soll bis zum Beginn der
"archäologischen Renaissance", d. h. bis zum Ende des 18. Jahr-
hunderts dauern.

1) Allein das verflossene Jahr hat drei hierauf bezügliche Reform-
schriften gebracht: August Schmarsow, Reformvorschläge zur Geschichte
der deutschen Renaissance (Berichte der k. sächsischen Gesellsch. d. Wissensch.
1899); Erich Haenel, Spätgotik und Renaissance, Stuttgart 1899; Kurt Moritz-
Eichborn
, Der Skulpturenzyklus in der Vorhalle des Freiburger Münsters,
Straßburg 1899. Die folgende Erörterung beschäftigt sich nur mit dem all-
gemeinen, allen drei Arbeiten gemeinsamen Problem. Auf die Einzelheiten,
auch wo sie zu kritischem Widerspruch auffordern, gehe ich nicht ein.
4*

Das ablaufende Jahrhundert hat keinem Gebiet der
Kunstgeschichte mehr Liebe und Arbeitseifer zu-
gewandt als der Renaissance. Das Schlußergebnis
aber muß ein seltsames genannt werden. Es ist
Infragestellung des Grundbegriffes. Immer mehr
Stimmen werden laut, die ihn dringend der Reform für bedürftig
erklären; es sei ein unvollständiger Begriff gewesen, womit wir
uns bisher behalfen; er müsse inhaltlich tiefer genommen und
darum auch in seinen historischen Grenzen weiter gefaßt werden1).

Der hiermit für überlebt erklärte Begriff war ausgegangen
von der Umwälzung der Architektur unter dem Einfluß der
Antike; dann wurden die Schwesterkünste angeschlossen; endlich
als gemeinsamer Untergrund eine spezifische Renaissancekultur
entdeckt. Alles dies Erzeugnis und Eigentum des modernen
italienischen Geistes, aber mannigfach gefärbt durch die »Wieder-
geburt des Altertums«, was hier in Italien jedoch nichts anderes
war als das Zurückgreifen auf die nationale Vergangenheit. Später
trat noch eine deutsche, französische usw. Renaissance hinzu,
als Umbildung der nordischen Kunst und Kultur unter italienischem
Einfluß. Wie man sieht, läßt diese Begriffsbildung an innerer
Präzision und straffer, konzentrischer Fügung nichts zu wünschen
übrig. Etwas ganz anderes ist diejenige »nordische Renaissance«,
von der man seit 10—15 Jahren bei uns zu sprechen begonnen hat.
Sie soll gerade das selbständige Erwachen des modernen Geistes
in der Kunst der germanischen Völker — von den van Eycks an
oder, wie neuestens behauptet wird, noch früher — bedeuten und
die neugeschaffene Gesamtrenaissance soll bis zum Beginn der
»archäologischen Renaissance«, d. h. bis zum Ende des 18. Jahr-
hunderts dauern.

1) Allein das verflossene Jahr hat drei hierauf bezügliche Reform-
schriften gebracht: August Schmarsow, Reformvorschläge zur Geschichte
der deutschen Renaissance (Berichte der k. sächsischen Gesellsch. d. Wissensch.
1899); Erich Haenel, Spätgotik und Renaissance, Stuttgart 1899; Kurt Moritz-
Eichborn
, Der Skulpturenzyklus in der Vorhalle des Freiburger Münsters,
Straßburg 1899. Die folgende Erörterung beschäftigt sich nur mit dem all-
gemeinen, allen drei Arbeiten gemeinsamen Problem. Auf die Einzelheiten,
auch wo sie zu kritischem Widerspruch auffordern, gehe ich nicht ein.
4*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0065" n="[51]"/>
        <p><hi rendition="#in">D</hi>as ablaufende Jahrhundert hat keinem Gebiet der<lb/>
Kunstgeschichte mehr Liebe und Arbeitseifer zu-<lb/>
gewandt als der Renaissance. Das Schlußergebnis<lb/>
aber muß ein seltsames genannt werden. Es ist<lb/>
Infragestellung des Grundbegriffes. Immer mehr<lb/>
Stimmen werden laut, die ihn dringend der Reform für bedürftig<lb/>
erklären; es sei ein unvollständiger Begriff gewesen, womit wir<lb/>
uns bisher behalfen; er müsse inhaltlich tiefer genommen und<lb/>
darum auch in seinen historischen Grenzen weiter gefaßt werden<note place="foot" n="1)">Allein das verflossene Jahr hat drei hierauf bezügliche Reform-<lb/>
schriften gebracht: <hi rendition="#i">August Schmarsow</hi>, Reformvorschläge zur Geschichte<lb/>
der deutschen Renaissance (Berichte der k. sächsischen Gesellsch. d. Wissensch.<lb/>
1899); <hi rendition="#i">Erich Haenel</hi>, Spätgotik und Renaissance, Stuttgart 1899; <hi rendition="#i">Kurt Moritz-<lb/>
Eichborn</hi>, Der Skulpturenzyklus in der Vorhalle des Freiburger Münsters,<lb/>
Straßburg 1899. Die folgende Erörterung beschäftigt sich nur mit dem all-<lb/>
gemeinen, allen drei Arbeiten gemeinsamen Problem. Auf die Einzelheiten,<lb/>
auch wo sie zu kritischem Widerspruch auffordern, gehe ich nicht ein.</note>.</p><lb/>
        <p>Der hiermit für überlebt erklärte Begriff war ausgegangen<lb/>
von der Umwälzung der Architektur unter dem Einfluß der<lb/>
Antike; dann wurden die Schwesterkünste angeschlossen; endlich<lb/>
als gemeinsamer Untergrund eine spezifische Renaissancekultur<lb/>
entdeckt. Alles dies Erzeugnis und Eigentum des modernen<lb/>
italienischen Geistes, aber mannigfach gefärbt durch die »Wieder-<lb/>
geburt des Altertums«, was hier in Italien jedoch nichts anderes<lb/>
war als das Zurückgreifen auf die nationale Vergangenheit. Später<lb/>
trat noch eine deutsche, französische usw. Renaissance hinzu,<lb/>
als Umbildung der nordischen Kunst und Kultur unter italienischem<lb/>
Einfluß. Wie man sieht, läßt diese Begriffsbildung an innerer<lb/>
Präzision und straffer, konzentrischer Fügung nichts zu wünschen<lb/>
übrig. Etwas ganz anderes ist diejenige »nordische Renaissance«,<lb/>
von der man seit 10&#x2014;15 Jahren bei uns zu sprechen begonnen hat.<lb/>
Sie soll gerade das selbständige Erwachen des modernen Geistes<lb/>
in der Kunst der germanischen Völker &#x2014; von den van Eycks an<lb/>
oder, wie neuestens behauptet wird, noch früher &#x2014; bedeuten und<lb/>
die neugeschaffene Gesamtrenaissance soll bis zum Beginn der<lb/>
»archäologischen Renaissance«, d. h. bis zum Ende des 18. Jahr-<lb/>
hunderts dauern.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">4*</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[51]/0065] Das ablaufende Jahrhundert hat keinem Gebiet der Kunstgeschichte mehr Liebe und Arbeitseifer zu- gewandt als der Renaissance. Das Schlußergebnis aber muß ein seltsames genannt werden. Es ist Infragestellung des Grundbegriffes. Immer mehr Stimmen werden laut, die ihn dringend der Reform für bedürftig erklären; es sei ein unvollständiger Begriff gewesen, womit wir uns bisher behalfen; er müsse inhaltlich tiefer genommen und darum auch in seinen historischen Grenzen weiter gefaßt werden 1). Der hiermit für überlebt erklärte Begriff war ausgegangen von der Umwälzung der Architektur unter dem Einfluß der Antike; dann wurden die Schwesterkünste angeschlossen; endlich als gemeinsamer Untergrund eine spezifische Renaissancekultur entdeckt. Alles dies Erzeugnis und Eigentum des modernen italienischen Geistes, aber mannigfach gefärbt durch die »Wieder- geburt des Altertums«, was hier in Italien jedoch nichts anderes war als das Zurückgreifen auf die nationale Vergangenheit. Später trat noch eine deutsche, französische usw. Renaissance hinzu, als Umbildung der nordischen Kunst und Kultur unter italienischem Einfluß. Wie man sieht, läßt diese Begriffsbildung an innerer Präzision und straffer, konzentrischer Fügung nichts zu wünschen übrig. Etwas ganz anderes ist diejenige »nordische Renaissance«, von der man seit 10—15 Jahren bei uns zu sprechen begonnen hat. Sie soll gerade das selbständige Erwachen des modernen Geistes in der Kunst der germanischen Völker — von den van Eycks an oder, wie neuestens behauptet wird, noch früher — bedeuten und die neugeschaffene Gesamtrenaissance soll bis zum Beginn der »archäologischen Renaissance«, d. h. bis zum Ende des 18. Jahr- hunderts dauern. 1) Allein das verflossene Jahr hat drei hierauf bezügliche Reform- schriften gebracht: August Schmarsow, Reformvorschläge zur Geschichte der deutschen Renaissance (Berichte der k. sächsischen Gesellsch. d. Wissensch. 1899); Erich Haenel, Spätgotik und Renaissance, Stuttgart 1899; Kurt Moritz- Eichborn, Der Skulpturenzyklus in der Vorhalle des Freiburger Münsters, Straßburg 1899. Die folgende Erörterung beschäftigt sich nur mit dem all- gemeinen, allen drei Arbeiten gemeinsamen Problem. Auf die Einzelheiten, auch wo sie zu kritischem Widerspruch auffordern, gehe ich nicht ein. 4*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-21T10:17:23Z)
University of Toronto, Robarts Library of Humanities & Social Sciences: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-21T10:17:23Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate für die Seiten 122 und 123 (2012-02-21T10:17:23Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/65
Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. [51]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/65>, abgerufen am 27.11.2024.