förmlich perhorreszierte; denn im Anjou und Poitou, wo sie ihn vorfand, hat sie ihn ausgerottet.
Erst die dritte Stufe läßt jede nationale Klausel fallen und bekennt sich rückhaltlos zum französischen Ideal, und zwar zu der glänzendsten Fassung desselben. Die Meister dieser Stufe arbeiten in voller Beherrschung des Stils, mit seinem Wesen innerlich so verwachsen wie nur irgendein Franzose selbst, nicht als Kopisten, sondern als freie Künstlerindividuen. Und deshalb vermögen sie gewisse Probleme, welche die französische Entwicklung nicht er- ledigt hatte, völlig kongenial und aufs herrlichste weiterzuführen. Zeugnis: die Fassade von Straßburg, der Turm von Freiburg.
Der Punkt größter Annäherung an die französische Kunst, der im Dom von Köln erreicht war, bedeutet zugleich den Beginn einer Rückbiegung der Bahn. Sobald die Rezeption vollendet, der gotische Stil in allgemeinen Gebrauch genommen war -- im Westen Deutschlands bald nach der Mitte des 13. Jahrhunderts, im Norden und Osten etwa 25 Jahre später -- mußte notwendig eine Umbildung im Sinne der Vereinfachung eintreten (besonders augenfällig die Ausschaltung des Triforiums). Die Baumaterialien, die das deutsche Gebiet zur Verfügung hatte, eigneten sich bei weitem nicht überall für die reiche französische Formenbehandlung; der Wohlstand der Nation war nicht auf der Höhe, sich einen so ausgesprochenen Luxusstil zu erlauben; durch die Umwälzungen in Staat und Gesellschaft nach der Katastrophe des Kaisertums waren die alten aristokratischen Mächte gelähmt, war einer großen repräsentativen Kunst der Boden entzogen. Die jetzt der Bau- kunst die meiste Beschäftigung und die geistige Richtung gaben, waren das Bürgertum und die mit diesem in die Höhe gekommenen Bettelorden. Es wurde sehr viel gebaut -- so viel, daß Deutsch- land bis zur großen Volksvermehrung im 19. Jahrhundert seinen Bedarf an Kirchenbauten zu einem großen Teil mit dem vom Mittelalter hinterlassenen Bestande decken konnte -- aber nicht von innen heraus groß. Die Basilika, den früheren Jahrhunderten in ihrem vornehmen räumlichen Rhythmus eine unersetzlich wertvolle Kunstform, wurde mehr und mehr aufgegeben, und an ihre Stelle trat die Hallenkirche, d. i. die Anlage mit Schiffen
Die Kunst des Mittelalters
förmlich perhorreszierte; denn im Anjou und Poitou, wo sie ihn vorfand, hat sie ihn ausgerottet.
Erst die dritte Stufe läßt jede nationale Klausel fallen und bekennt sich rückhaltlos zum französischen Ideal, und zwar zu der glänzendsten Fassung desselben. Die Meister dieser Stufe arbeiten in voller Beherrschung des Stils, mit seinem Wesen innerlich so verwachsen wie nur irgendein Franzose selbst, nicht als Kopisten, sondern als freie Künstlerindividuen. Und deshalb vermögen sie gewisse Probleme, welche die französische Entwicklung nicht er- ledigt hatte, völlig kongenial und aufs herrlichste weiterzuführen. Zeugnis: die Fassade von Straßburg, der Turm von Freiburg.
Der Punkt größter Annäherung an die französische Kunst, der im Dom von Köln erreicht war, bedeutet zugleich den Beginn einer Rückbiegung der Bahn. Sobald die Rezeption vollendet, der gotische Stil in allgemeinen Gebrauch genommen war — im Westen Deutschlands bald nach der Mitte des 13. Jahrhunderts, im Norden und Osten etwa 25 Jahre später — mußte notwendig eine Umbildung im Sinne der Vereinfachung eintreten (besonders augenfällig die Ausschaltung des Triforiums). Die Baumaterialien, die das deutsche Gebiet zur Verfügung hatte, eigneten sich bei weitem nicht überall für die reiche französische Formenbehandlung; der Wohlstand der Nation war nicht auf der Höhe, sich einen so ausgesprochenen Luxusstil zu erlauben; durch die Umwälzungen in Staat und Gesellschaft nach der Katastrophe des Kaisertums waren die alten aristokratischen Mächte gelähmt, war einer großen repräsentativen Kunst der Boden entzogen. Die jetzt der Bau- kunst die meiste Beschäftigung und die geistige Richtung gaben, waren das Bürgertum und die mit diesem in die Höhe gekommenen Bettelorden. Es wurde sehr viel gebaut — so viel, daß Deutsch- land bis zur großen Volksvermehrung im 19. Jahrhundert seinen Bedarf an Kirchenbauten zu einem großen Teil mit dem vom Mittelalter hinterlassenen Bestande decken konnte — aber nicht von innen heraus groß. Die Basilika, den früheren Jahrhunderten in ihrem vornehmen räumlichen Rhythmus eine unersetzlich wertvolle Kunstform, wurde mehr und mehr aufgegeben, und an ihre Stelle trat die Hallenkirche, d. i. die Anlage mit Schiffen
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Die Kunst des Mittelalters
förmlich perhorreszierte; denn im Anjou und Poitou, wo sie ihn
vorfand, hat sie ihn ausgerottet.
Erst die dritte Stufe läßt jede nationale Klausel fallen und
bekennt sich rückhaltlos zum französischen Ideal, und zwar zu der
glänzendsten Fassung desselben. Die Meister dieser Stufe arbeiten
in voller Beherrschung des Stils, mit seinem Wesen innerlich so
verwachsen wie nur irgendein Franzose selbst, nicht als Kopisten,
sondern als freie Künstlerindividuen. Und deshalb vermögen sie
gewisse Probleme, welche die französische Entwicklung nicht er-
ledigt hatte, völlig kongenial und aufs herrlichste weiterzuführen.
Zeugnis: die Fassade von Straßburg, der Turm von Freiburg.
Der Punkt größter Annäherung an die französische Kunst,
der im Dom von Köln erreicht war, bedeutet zugleich den Beginn
einer Rückbiegung der Bahn. Sobald die Rezeption vollendet,
der gotische Stil in allgemeinen Gebrauch genommen war — im
Westen Deutschlands bald nach der Mitte des 13. Jahrhunderts,
im Norden und Osten etwa 25 Jahre später — mußte notwendig
eine Umbildung im Sinne der Vereinfachung eintreten (besonders
augenfällig die Ausschaltung des Triforiums). Die Baumaterialien,
die das deutsche Gebiet zur Verfügung hatte, eigneten sich bei
weitem nicht überall für die reiche französische Formenbehandlung;
der Wohlstand der Nation war nicht auf der Höhe, sich einen so
ausgesprochenen Luxusstil zu erlauben; durch die Umwälzungen
in Staat und Gesellschaft nach der Katastrophe des Kaisertums
waren die alten aristokratischen Mächte gelähmt, war einer großen
repräsentativen Kunst der Boden entzogen. Die jetzt der Bau-
kunst die meiste Beschäftigung und die geistige Richtung gaben,
waren das Bürgertum und die mit diesem in die Höhe gekommenen
Bettelorden. Es wurde sehr viel gebaut — so viel, daß Deutsch-
land bis zur großen Volksvermehrung im 19. Jahrhundert seinen
Bedarf an Kirchenbauten zu einem großen Teil mit dem vom
Mittelalter hinterlassenen Bestande decken konnte — aber nicht
von innen heraus groß. Die Basilika, den früheren Jahrhunderten
in ihrem vornehmen räumlichen Rhythmus eine unersetzlich
wertvolle Kunstform, wurde mehr und mehr aufgegeben, und
an ihre Stelle trat die Hallenkirche, d. i. die Anlage mit Schiffen
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/46>, abgerufen am 16.02.2025.
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