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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Kunst des Mittelalters
bloß vor Wind und Wetter schützen, sie haben auch eine ästhe-
tische Aufgabe. Ein Raum ohne Wände, ohne solche, die das
Auge als Raumgrenze empfindet, wäre ästhetisch ein Wider-
spruch in sich selbst. Es darf also die verglaste Fensteröffnung
nicht als ein Leeres erscheinen. So wird sie mit einem Gitter-
werk feiner steinerner Stäbe und Bögen ausgestattet, und die
Glastafeln werden gefärbt. Damit ist der zerstörte Flächen-
zusammenhang wiederhergestellt, sind gleichsam Teppiche zwischen
den Pfeilern ausgespannt von unerhörter Farbenpracht, durch-
lässig für das von außen eindringende Licht, eine Schranke für
das von innen vordringende Auge des Beschauers. Nichts mehr
im Steinwerk ist ruhende Masse (außer den Gewölbekappen),
alles Bewegung. Und diese teilt sich dem Raumbilde selber mit,
das sich nun gewaltig in die Höhe reckt. Neben allem, was un-
mittelbar im System liegt, sind die Veränderungen in den Pro-
portionen, dann aber auch in der Beleuchtung wesentliche Momente
in der Wandlung der Grundstimmung vom Romanischen zum Go-
tischen. Äußerste Vervielfältigung der Einzelglieder, Steigerung der
Höhen, Verringerung der Durchmesser, Schweifung der horizontalen
Linien, Verlegung des Gemäldeschmucks in die Fenster und Durch-
flutung des Raumes mit farbigem Licht; damit ist die Basilika,
obschon in den allgemeinsten Bestimmungen unverändert, doch
zu einem völlig neuen ästhetischen Charakter umgebildet. Die
Gotik ist in den Mitteln, die sie anwendet, ganz Logik, im Ge-
fühlsausdruck ganz Mystik. Kann ein vollkommeneres Symbol
der mittelalterlich-kirchlichen Weltanschauung als in dieser Syn-
these gedacht werden?

Noch eine andere Seite in der geschichtlichen Stellung des
gotischen Stils, die wir hier freilich nur ganz eilig streifen können,
verlangt gewürdigt zu werden. Sie bedeutet ein sehr merkwür-
diges Kapitel in der Geschichte der menschlichen Arbeit. Wir
wissen, wie sehr den nordischen Völkern der Steinbau ursprünglich
etwas Fremdes und Mühsames war. Bis zum Jahre 1100 bleibt
der Mauerbau schlecht gefugt, die Meißelführung ungelenk. Von
dann ab ist der Fortschritt rapid, mit unverkennbarer Über-
legenheit der Romanen. Der gotische Stil ist recht eigentlich ein

Die Kunst des Mittelalters
bloß vor Wind und Wetter schützen, sie haben auch eine ästhe-
tische Aufgabe. Ein Raum ohne Wände, ohne solche, die das
Auge als Raumgrenze empfindet, wäre ästhetisch ein Wider-
spruch in sich selbst. Es darf also die verglaste Fensteröffnung
nicht als ein Leeres erscheinen. So wird sie mit einem Gitter-
werk feiner steinerner Stäbe und Bögen ausgestattet, und die
Glastafeln werden gefärbt. Damit ist der zerstörte Flächen-
zusammenhang wiederhergestellt, sind gleichsam Teppiche zwischen
den Pfeilern ausgespannt von unerhörter Farbenpracht, durch-
lässig für das von außen eindringende Licht, eine Schranke für
das von innen vordringende Auge des Beschauers. Nichts mehr
im Steinwerk ist ruhende Masse (außer den Gewölbekappen),
alles Bewegung. Und diese teilt sich dem Raumbilde selber mit,
das sich nun gewaltig in die Höhe reckt. Neben allem, was un-
mittelbar im System liegt, sind die Veränderungen in den Pro-
portionen, dann aber auch in der Beleuchtung wesentliche Momente
in der Wandlung der Grundstimmung vom Romanischen zum Go-
tischen. Äußerste Vervielfältigung der Einzelglieder, Steigerung der
Höhen, Verringerung der Durchmesser, Schweifung der horizontalen
Linien, Verlegung des Gemäldeschmucks in die Fenster und Durch-
flutung des Raumes mit farbigem Licht; damit ist die Basilika,
obschon in den allgemeinsten Bestimmungen unverändert, doch
zu einem völlig neuen ästhetischen Charakter umgebildet. Die
Gotik ist in den Mitteln, die sie anwendet, ganz Logik, im Ge-
fühlsausdruck ganz Mystik. Kann ein vollkommeneres Symbol
der mittelalterlich-kirchlichen Weltanschauung als in dieser Syn-
these gedacht werden?

Noch eine andere Seite in der geschichtlichen Stellung des
gotischen Stils, die wir hier freilich nur ganz eilig streifen können,
verlangt gewürdigt zu werden. Sie bedeutet ein sehr merkwür-
diges Kapitel in der Geschichte der menschlichen Arbeit. Wir
wissen, wie sehr den nordischen Völkern der Steinbau ursprünglich
etwas Fremdes und Mühsames war. Bis zum Jahre 1100 bleibt
der Mauerbau schlecht gefugt, die Meißelführung ungelenk. Von
dann ab ist der Fortschritt rapid, mit unverkennbarer Über-
legenheit der Romanen. Der gotische Stil ist recht eigentlich ein

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[24/0038] Die Kunst des Mittelalters bloß vor Wind und Wetter schützen, sie haben auch eine ästhe- tische Aufgabe. Ein Raum ohne Wände, ohne solche, die das Auge als Raumgrenze empfindet, wäre ästhetisch ein Wider- spruch in sich selbst. Es darf also die verglaste Fensteröffnung nicht als ein Leeres erscheinen. So wird sie mit einem Gitter- werk feiner steinerner Stäbe und Bögen ausgestattet, und die Glastafeln werden gefärbt. Damit ist der zerstörte Flächen- zusammenhang wiederhergestellt, sind gleichsam Teppiche zwischen den Pfeilern ausgespannt von unerhörter Farbenpracht, durch- lässig für das von außen eindringende Licht, eine Schranke für das von innen vordringende Auge des Beschauers. Nichts mehr im Steinwerk ist ruhende Masse (außer den Gewölbekappen), alles Bewegung. Und diese teilt sich dem Raumbilde selber mit, das sich nun gewaltig in die Höhe reckt. Neben allem, was un- mittelbar im System liegt, sind die Veränderungen in den Pro- portionen, dann aber auch in der Beleuchtung wesentliche Momente in der Wandlung der Grundstimmung vom Romanischen zum Go- tischen. Äußerste Vervielfältigung der Einzelglieder, Steigerung der Höhen, Verringerung der Durchmesser, Schweifung der horizontalen Linien, Verlegung des Gemäldeschmucks in die Fenster und Durch- flutung des Raumes mit farbigem Licht; damit ist die Basilika, obschon in den allgemeinsten Bestimmungen unverändert, doch zu einem völlig neuen ästhetischen Charakter umgebildet. Die Gotik ist in den Mitteln, die sie anwendet, ganz Logik, im Ge- fühlsausdruck ganz Mystik. Kann ein vollkommeneres Symbol der mittelalterlich-kirchlichen Weltanschauung als in dieser Syn- these gedacht werden? Noch eine andere Seite in der geschichtlichen Stellung des gotischen Stils, die wir hier freilich nur ganz eilig streifen können, verlangt gewürdigt zu werden. Sie bedeutet ein sehr merkwür- diges Kapitel in der Geschichte der menschlichen Arbeit. Wir wissen, wie sehr den nordischen Völkern der Steinbau ursprünglich etwas Fremdes und Mühsames war. Bis zum Jahre 1100 bleibt der Mauerbau schlecht gefugt, die Meißelführung ungelenk. Von dann ab ist der Fortschritt rapid, mit unverkennbarer Über- legenheit der Romanen. Der gotische Stil ist recht eigentlich ein

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/38>, abgerufen am 22.11.2024.