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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Zum Gedächtnis
binnenländische Enge zusammengepreßt. Das ist der Grund, wes-
halb der heutige Durchschnittsdeutsche ("Reichsdeutsche") sich in
die seelische Konstitution nicht hineinzufühlen vermag, die ent-
stehen muß, wo ein abgesplitterter und im Stich gelassener
Bruchteil seines Volkes säkular im Zusammenleben oder Kampf mit
fremden Nationalitäten sich auf eigene Hand zu behaupten hat.
Wenn es den heutigen Deutschen gelingen wird, was sie wollen,
wieder Kolonien auszusenden, dann werden sie auch uns, unsere
Geschichte und was dieselbe aus uns gemacht hat, mit anderen,
besser verstehenden Augen ansehen; aber allerdings wird es dann
zu spät sein.

Kehre ich von dieser erläuternden Einschaltung zu Viktor
Hehn zurück, so erkenne ich in ihm den in der Kolonie Geborenen
zuerst an seinem allzeit regen Interesse und seinem geschärften
Blick für Fragen der Rassenpsychologie. Schon aus dem, was er
selbst in den Druck gegeben hat, besonders aus seinen glänzenden
(anonymen) Beiträgen zur "Baltischen Monatsschrift", geht dies
hervor; noch umfassender aus den Fragmenten seines Nachlasses.
Sympathie und Antipathie spielen dabei eine große Rolle. Immer
aber reagiert sein angeborenes Naturell gegen das Fremde mit un-
endlich feiner Sensibilität. Slawen, Franzosen, Juden haben an
ihm einen oft einseitigen, niemals willkürlichen Kritiker, die
Italiener einen innigst verstehenden gefunden. Ob Scharfblick der
Abneigung, ob Scharfblick der Liebe -- immer ist es ein Scharf-
blick, der bewunderungswürdig von der Oberfläche zur Tiefe hin-
führt.

Als geborener Kolonist ist Hehn sodann geborener Aristokrat.
Und zwar mehr mit ästhetischer als mit politischer Färbung. Seine
wechselnde Stellungnahme zu den vorhandenen Parteien -- in
seiner Jugend war er liberal, in seinem Alter konservativ -- be-
deutet deshalb keine innere Veränderung. "Was Bismarck betrifft,
so bekenne ich in meiner Einfalt, daß mitten in der demokratischen
Plattheit und Seichtigkeit, von der man millionenfach in Wort und
Schrift und Tat umwimmelt wird, dieser einzige Mann mein Trost
und meine Erbauung ist", so heißt es in einem Brief aus dem Ende
der 80 er Jahre. Trotzdem hat Hehn, das ist bezeichnend für seine

Zum Gedächtnis
binnenländische Enge zusammengepreßt. Das ist der Grund, wes-
halb der heutige Durchschnittsdeutsche («Reichsdeutsche») sich in
die seelische Konstitution nicht hineinzufühlen vermag, die ent-
stehen muß, wo ein abgesplitterter und im Stich gelassener
Bruchteil seines Volkes säkular im Zusammenleben oder Kampf mit
fremden Nationalitäten sich auf eigene Hand zu behaupten hat.
Wenn es den heutigen Deutschen gelingen wird, was sie wollen,
wieder Kolonien auszusenden, dann werden sie auch uns, unsere
Geschichte und was dieselbe aus uns gemacht hat, mit anderen,
besser verstehenden Augen ansehen; aber allerdings wird es dann
zu spät sein.

Kehre ich von dieser erläuternden Einschaltung zu Viktor
Hehn zurück, so erkenne ich in ihm den in der Kolonie Geborenen
zuerst an seinem allzeit regen Interesse und seinem geschärften
Blick für Fragen der Rassenpsychologie. Schon aus dem, was er
selbst in den Druck gegeben hat, besonders aus seinen glänzenden
(anonymen) Beiträgen zur »Baltischen Monatsschrift«, geht dies
hervor; noch umfassender aus den Fragmenten seines Nachlasses.
Sympathie und Antipathie spielen dabei eine große Rolle. Immer
aber reagiert sein angeborenes Naturell gegen das Fremde mit un-
endlich feiner Sensibilität. Slawen, Franzosen, Juden haben an
ihm einen oft einseitigen, niemals willkürlichen Kritiker, die
Italiener einen innigst verstehenden gefunden. Ob Scharfblick der
Abneigung, ob Scharfblick der Liebe — immer ist es ein Scharf-
blick, der bewunderungswürdig von der Oberfläche zur Tiefe hin-
führt.

Als geborener Kolonist ist Hehn sodann geborener Aristokrat.
Und zwar mehr mit ästhetischer als mit politischer Färbung. Seine
wechselnde Stellungnahme zu den vorhandenen Parteien — in
seiner Jugend war er liberal, in seinem Alter konservativ — be-
deutet deshalb keine innere Veränderung. »Was Bismarck betrifft,
so bekenne ich in meiner Einfalt, daß mitten in der demokratischen
Plattheit und Seichtigkeit, von der man millionenfach in Wort und
Schrift und Tat umwimmelt wird, dieser einzige Mann mein Trost
und meine Erbauung ist«, so heißt es in einem Brief aus dem Ende
der 80 er Jahre. Trotzdem hat Hehn, das ist bezeichnend für seine

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[300/0362] Zum Gedächtnis binnenländische Enge zusammengepreßt. Das ist der Grund, wes- halb der heutige Durchschnittsdeutsche («Reichsdeutsche») sich in die seelische Konstitution nicht hineinzufühlen vermag, die ent- stehen muß, wo ein abgesplitterter und im Stich gelassener Bruchteil seines Volkes säkular im Zusammenleben oder Kampf mit fremden Nationalitäten sich auf eigene Hand zu behaupten hat. Wenn es den heutigen Deutschen gelingen wird, was sie wollen, wieder Kolonien auszusenden, dann werden sie auch uns, unsere Geschichte und was dieselbe aus uns gemacht hat, mit anderen, besser verstehenden Augen ansehen; aber allerdings wird es dann zu spät sein. Kehre ich von dieser erläuternden Einschaltung zu Viktor Hehn zurück, so erkenne ich in ihm den in der Kolonie Geborenen zuerst an seinem allzeit regen Interesse und seinem geschärften Blick für Fragen der Rassenpsychologie. Schon aus dem, was er selbst in den Druck gegeben hat, besonders aus seinen glänzenden (anonymen) Beiträgen zur »Baltischen Monatsschrift«, geht dies hervor; noch umfassender aus den Fragmenten seines Nachlasses. Sympathie und Antipathie spielen dabei eine große Rolle. Immer aber reagiert sein angeborenes Naturell gegen das Fremde mit un- endlich feiner Sensibilität. Slawen, Franzosen, Juden haben an ihm einen oft einseitigen, niemals willkürlichen Kritiker, die Italiener einen innigst verstehenden gefunden. Ob Scharfblick der Abneigung, ob Scharfblick der Liebe — immer ist es ein Scharf- blick, der bewunderungswürdig von der Oberfläche zur Tiefe hin- führt. Als geborener Kolonist ist Hehn sodann geborener Aristokrat. Und zwar mehr mit ästhetischer als mit politischer Färbung. Seine wechselnde Stellungnahme zu den vorhandenen Parteien — in seiner Jugend war er liberal, in seinem Alter konservativ — be- deutet deshalb keine innere Veränderung. »Was Bismarck betrifft, so bekenne ich in meiner Einfalt, daß mitten in der demokratischen Plattheit und Seichtigkeit, von der man millionenfach in Wort und Schrift und Tat umwimmelt wird, dieser einzige Mann mein Trost und meine Erbauung ist«, so heißt es in einem Brief aus dem Ende der 80 er Jahre. Trotzdem hat Hehn, das ist bezeichnend für seine

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/362>, abgerufen am 21.11.2024.