Ich habe den Freund, von dem wir nun Abschied nehmen, zum letztenmal gesehen an jenem leuchtenden Maientage, an dem wir seinen 70. Geburtstag feierten. Die Antithese ist zu schmerz- lich! Lassen Sie uns den Blick zu dem hinwenden, was dauert.
Gemeinsame Interessen des Faches führten mich zum ersten- mal mit Heinrich v. Geymüller zusammen. Schon in dieser ersten Stunde wußte ich, daß ich noch einen anderen Gewinn als den gesuchten, einen sehr großen, davongetragen hatte: ich hatte einen edlen Menschen kennen gelernt.
Wie mir, so ist es allen den vielen gegangen, deren Gedanken aus der weiten Welt in diesem Augenblick hier zusammentreffen: aus Fachgenossen wurden Freunde. Heinrich v. Geymüller gekannt zu haben, rechne ich zu den Glücksfällen meines Lebens. Ich suche nach einem Gleichnis: wie wenn man in der Konstruktion einer modernen Maschinenhalle plötzlich ein edles Bramantesches Profil auftauchen sähe, so ist er mir in dieser Zeit erschienen. Sein Lebenswerk als Forscher und Schriftsteller zu schildern, wäre der gegebene Ort die Sitzung einer Akademie, nicht hier. In der großen Organisation der wissenschaftlichen Arbeit, die wir uns eingerichtet haben, verschwindet so leicht der einzelne hinter seinem Werk. Heinrich v. Geymüllers Werke waren Früchte an einem Baum, der auch an sich, als Baum, schön war; einem Baum, den man nicht klassifizieren konnte, weil er nur in diesem einen Exemplar vorkam. Ein merkwürdiger Reichtum lag in seiner Persönlichkeit, ein eigener poetischer Schimmer umfloß ihn. Das kam daher: drei Wesen, die wir sonst nur getrennt zu sehen gewohnt sind, hatten in ihm sich zu einer kostbaren Einheit verschmolzen: der Edelmann, der Künstler, der Gelehrte. Den meisten, die Erfahrung lehrt es, ge- reicht eine solche Mehrseitigkeit der Begabung und Lebensführung nicht zum Heil; bei starken Charaktern entstehen schwere innere Konflikte, bei schwachen Zersplitterung und Verflachung. Bei Heinrich v. Geymüller war alles in Harmonie. Dies habe ich an ihm am meisten bewundert, und ich weiß, es war nicht nur Gabe
Am Grabe Heinrichs Freiherrn v. Geymüller
den 21. Dezember 1909
Ich habe den Freund, von dem wir nun Abschied nehmen, zum letztenmal gesehen an jenem leuchtenden Maientage, an dem wir seinen 70. Geburtstag feierten. Die Antithese ist zu schmerz- lich! Lassen Sie uns den Blick zu dem hinwenden, was dauert.
Gemeinsame Interessen des Faches führten mich zum ersten- mal mit Heinrich v. Geymüller zusammen. Schon in dieser ersten Stunde wußte ich, daß ich noch einen anderen Gewinn als den gesuchten, einen sehr großen, davongetragen hatte: ich hatte einen edlen Menschen kennen gelernt.
Wie mir, so ist es allen den vielen gegangen, deren Gedanken aus der weiten Welt in diesem Augenblick hier zusammentreffen: aus Fachgenossen wurden Freunde. Heinrich v. Geymüller gekannt zu haben, rechne ich zu den Glücksfällen meines Lebens. Ich suche nach einem Gleichnis: wie wenn man in der Konstruktion einer modernen Maschinenhalle plötzlich ein edles Bramantesches Profil auftauchen sähe, so ist er mir in dieser Zeit erschienen. Sein Lebenswerk als Forscher und Schriftsteller zu schildern, wäre der gegebene Ort die Sitzung einer Akademie, nicht hier. In der großen Organisation der wissenschaftlichen Arbeit, die wir uns eingerichtet haben, verschwindet so leicht der einzelne hinter seinem Werk. Heinrich v. Geymüllers Werke waren Früchte an einem Baum, der auch an sich, als Baum, schön war; einem Baum, den man nicht klassifizieren konnte, weil er nur in diesem einen Exemplar vorkam. Ein merkwürdiger Reichtum lag in seiner Persönlichkeit, ein eigener poetischer Schimmer umfloß ihn. Das kam daher: drei Wesen, die wir sonst nur getrennt zu sehen gewohnt sind, hatten in ihm sich zu einer kostbaren Einheit verschmolzen: der Edelmann, der Künstler, der Gelehrte. Den meisten, die Erfahrung lehrt es, ge- reicht eine solche Mehrseitigkeit der Begabung und Lebensführung nicht zum Heil; bei starken Charaktern entstehen schwere innere Konflikte, bei schwachen Zersplitterung und Verflachung. Bei Heinrich v. Geymüller war alles in Harmonie. Dies habe ich an ihm am meisten bewundert, und ich weiß, es war nicht nur Gabe
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Am Grabe Heinrichs Freiherrn v. Geymüller
den 21. Dezember 1909
Ich habe den Freund, von dem wir nun Abschied nehmen,
zum letztenmal gesehen an jenem leuchtenden Maientage, an dem
wir seinen 70. Geburtstag feierten. Die Antithese ist zu schmerz-
lich! Lassen Sie uns den Blick zu dem hinwenden, was dauert.
Gemeinsame Interessen des Faches führten mich zum ersten-
mal mit Heinrich v. Geymüller zusammen. Schon in dieser ersten
Stunde wußte ich, daß ich noch einen anderen Gewinn als den
gesuchten, einen sehr großen, davongetragen hatte: ich hatte einen
edlen Menschen kennen gelernt.
Wie mir, so ist es allen den vielen gegangen, deren Gedanken
aus der weiten Welt in diesem Augenblick hier zusammentreffen:
aus Fachgenossen wurden Freunde. Heinrich v. Geymüller gekannt
zu haben, rechne ich zu den Glücksfällen meines Lebens. Ich suche
nach einem Gleichnis: wie wenn man in der Konstruktion einer
modernen Maschinenhalle plötzlich ein edles Bramantesches Profil
auftauchen sähe, so ist er mir in dieser Zeit erschienen. Sein
Lebenswerk als Forscher und Schriftsteller zu schildern, wäre der
gegebene Ort die Sitzung einer Akademie, nicht hier. In der großen
Organisation der wissenschaftlichen Arbeit, die wir uns eingerichtet
haben, verschwindet so leicht der einzelne hinter seinem Werk.
Heinrich v. Geymüllers Werke waren Früchte an einem Baum, der
auch an sich, als Baum, schön war; einem Baum, den man nicht
klassifizieren konnte, weil er nur in diesem einen Exemplar vorkam.
Ein merkwürdiger Reichtum lag in seiner Persönlichkeit, ein eigener
poetischer Schimmer umfloß ihn. Das kam daher: drei Wesen, die
wir sonst nur getrennt zu sehen gewohnt sind, hatten in ihm sich
zu einer kostbaren Einheit verschmolzen: der Edelmann, der
Künstler, der Gelehrte. Den meisten, die Erfahrung lehrt es, ge-
reicht eine solche Mehrseitigkeit der Begabung und Lebensführung
nicht zum Heil; bei starken Charaktern entstehen schwere innere
Konflikte, bei schwachen Zersplitterung und Verflachung. Bei
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. [297]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/359>, abgerufen am 24.11.2024.
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