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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Das Verhältnis d. geschichtlichen z. d. kunstgeschichlichen Studien

Wir brauchen diesen Gedankengang nicht fortzusetzen. Die
Lücke in der Durchschnittsbildung unserer Historiker, von der
wir reden, ist eine offenbare, und wir hoffen, daß die Zeit noch
kommen wird, in der man auf sie zurückblickend voll Staunens
fragen wird: wie war das nur möglich? wie konnte dies so ruhig
ertragen werden? Für sich betrachtet, würde die Erscheinung
in der Tat schwer zu verstehen sein. Sie ist aber nur Symptom
eines viel tieferen, allgemeineren Schadens. Als der deutsche
Geist aus der schweren Ermattung, in welche die Glaubensstreitig-
keiten des 16. und der große Krieg des 17. Jahrhunderts ihn ge-
stürzt hatten, allgemach sich erhob, da war sein Organismus kein
intakter mehr. Alles Große, was in den letzten 150 Jahren Musik
und Dichtkunst, danach Philosophie und endlich historische und
exakte Wissenschaften bei uns geleistet haben, kann es nicht
verschmerzen machen, daß während dessen ein weites Feld, ein
Feld, auf dem wir einmal reiche Ernten gehalten hatten, brach
liegen blieb, verödete, verdorrte: die bildende Kunst und alles,
was in deren Herrschaftskreis gehört. Sie vegetierte nur noch
als Luxus weniger Reicher, als exklusives Vergnügen weniger
Kenner: -- das Volk im ganzen hatte jeglichen Anteil verloren.
So mußten die großen Künstlertalente, mit denen seit dem Ende
des vorigen Jahrhunderts die Nation beschenkt wurde, sich in die
Wolken flüchten, da der Boden des Vaterlandes Raum und Nahrung
ihnen versagte. Welch ein trauriger Abstand von der Zeit, da
etwas von jener "Kunst- und Bilderlust eines ganzen Volkes", die
Goethe in Pompeji anstaunte, "von der jetzt der eifrigste Lieb-
haber weder Begriff, noch Gefühl, noch Bedürfnis hat", auch bei
uns Deutschen gelebt hatte. So weit waren wir innerlich von jener
Zeit getrennt, daß selbst die Erinnerung an sie, obgleich ihre
Zeugen vor jedermanns Augen standen, erloschen war.

Unverkennbar ist seit einigen Dezennien eine Wendung zum
Besseren eingetreten. Und die Wissenschaft der Kunstgeschichte
darf sich Glück wünschen, zu dieser Wendung kräftig beigetragen
zu haben. Erst indem sie in den Spiegel der Vergangenheit schaute,
wurde die Gegenwart ihres Mangels inne. Sie vermag heute, kraft
der modernen Organisation des Staates und der modernen Fort-

Das Verhältnis d. geschichtlichen z. d. kunstgeschichlichen Studien

Wir brauchen diesen Gedankengang nicht fortzusetzen. Die
Lücke in der Durchschnittsbildung unserer Historiker, von der
wir reden, ist eine offenbare, und wir hoffen, daß die Zeit noch
kommen wird, in der man auf sie zurückblickend voll Staunens
fragen wird: wie war das nur möglich? wie konnte dies so ruhig
ertragen werden? Für sich betrachtet, würde die Erscheinung
in der Tat schwer zu verstehen sein. Sie ist aber nur Symptom
eines viel tieferen, allgemeineren Schadens. Als der deutsche
Geist aus der schweren Ermattung, in welche die Glaubensstreitig-
keiten des 16. und der große Krieg des 17. Jahrhunderts ihn ge-
stürzt hatten, allgemach sich erhob, da war sein Organismus kein
intakter mehr. Alles Große, was in den letzten 150 Jahren Musik
und Dichtkunst, danach Philosophie und endlich historische und
exakte Wissenschaften bei uns geleistet haben, kann es nicht
verschmerzen machen, daß während dessen ein weites Feld, ein
Feld, auf dem wir einmal reiche Ernten gehalten hatten, brach
liegen blieb, verödete, verdorrte: die bildende Kunst und alles,
was in deren Herrschaftskreis gehört. Sie vegetierte nur noch
als Luxus weniger Reicher, als exklusives Vergnügen weniger
Kenner: — das Volk im ganzen hatte jeglichen Anteil verloren.
So mußten die großen Künstlertalente, mit denen seit dem Ende
des vorigen Jahrhunderts die Nation beschenkt wurde, sich in die
Wolken flüchten, da der Boden des Vaterlandes Raum und Nahrung
ihnen versagte. Welch ein trauriger Abstand von der Zeit, da
etwas von jener »Kunst- und Bilderlust eines ganzen Volkes«, die
Goethe in Pompeji anstaunte, »von der jetzt der eifrigste Lieb-
haber weder Begriff, noch Gefühl, noch Bedürfnis hat«, auch bei
uns Deutschen gelebt hatte. So weit waren wir innerlich von jener
Zeit getrennt, daß selbst die Erinnerung an sie, obgleich ihre
Zeugen vor jedermanns Augen standen, erloschen war.

Unverkennbar ist seit einigen Dezennien eine Wendung zum
Besseren eingetreten. Und die Wissenschaft der Kunstgeschichte
darf sich Glück wünschen, zu dieser Wendung kräftig beigetragen
zu haben. Erst indem sie in den Spiegel der Vergangenheit schaute,
wurde die Gegenwart ihres Mangels inne. Sie vermag heute, kraft
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[240/0302] Das Verhältnis d. geschichtlichen z. d. kunstgeschichlichen Studien Wir brauchen diesen Gedankengang nicht fortzusetzen. Die Lücke in der Durchschnittsbildung unserer Historiker, von der wir reden, ist eine offenbare, und wir hoffen, daß die Zeit noch kommen wird, in der man auf sie zurückblickend voll Staunens fragen wird: wie war das nur möglich? wie konnte dies so ruhig ertragen werden? Für sich betrachtet, würde die Erscheinung in der Tat schwer zu verstehen sein. Sie ist aber nur Symptom eines viel tieferen, allgemeineren Schadens. Als der deutsche Geist aus der schweren Ermattung, in welche die Glaubensstreitig- keiten des 16. und der große Krieg des 17. Jahrhunderts ihn ge- stürzt hatten, allgemach sich erhob, da war sein Organismus kein intakter mehr. Alles Große, was in den letzten 150 Jahren Musik und Dichtkunst, danach Philosophie und endlich historische und exakte Wissenschaften bei uns geleistet haben, kann es nicht verschmerzen machen, daß während dessen ein weites Feld, ein Feld, auf dem wir einmal reiche Ernten gehalten hatten, brach liegen blieb, verödete, verdorrte: die bildende Kunst und alles, was in deren Herrschaftskreis gehört. Sie vegetierte nur noch als Luxus weniger Reicher, als exklusives Vergnügen weniger Kenner: — das Volk im ganzen hatte jeglichen Anteil verloren. So mußten die großen Künstlertalente, mit denen seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts die Nation beschenkt wurde, sich in die Wolken flüchten, da der Boden des Vaterlandes Raum und Nahrung ihnen versagte. Welch ein trauriger Abstand von der Zeit, da etwas von jener »Kunst- und Bilderlust eines ganzen Volkes«, die Goethe in Pompeji anstaunte, »von der jetzt der eifrigste Lieb- haber weder Begriff, noch Gefühl, noch Bedürfnis hat«, auch bei uns Deutschen gelebt hatte. So weit waren wir innerlich von jener Zeit getrennt, daß selbst die Erinnerung an sie, obgleich ihre Zeugen vor jedermanns Augen standen, erloschen war. Unverkennbar ist seit einigen Dezennien eine Wendung zum Besseren eingetreten. Und die Wissenschaft der Kunstgeschichte darf sich Glück wünschen, zu dieser Wendung kräftig beigetragen zu haben. Erst indem sie in den Spiegel der Vergangenheit schaute, wurde die Gegenwart ihres Mangels inne. Sie vermag heute, kraft der modernen Organisation des Staates und der modernen Fort-

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/302>, abgerufen am 23.11.2024.