Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust Szene sich vergleichen könnte. Und da alle echte Poesie unendlichist und immer fortzeugt, so wird bei diesem Anblick in Goethes Geist die langgesuchte Schlußszene der Faustdichtung lebendig und findet ihren Körper: Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde. Wer diese Strophe ohne Kenntnis ihrer Bildquelle liest, wird 1) Unsere Tafel 3 gibt nur die linke Hälfte des umfangreichen Ge-
mäldes, der die rechte in der allgemeinen Anordnung genau entspricht. Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust Szene sich vergleichen könnte. Und da alle echte Poesie unendlichist und immer fortzeugt, so wird bei diesem Anblick in Goethes Geist die langgesuchte Schlußszene der Faustdichtung lebendig und findet ihren Körper: Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde. Wer diese Strophe ohne Kenntnis ihrer Bildquelle liest, wird 1) Unsere Tafel 3 gibt nur die linke Hälfte des umfangreichen Ge-
mäldes, der die rechte in der allgemeinen Anordnung genau entspricht. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0286" n="230"/><fw place="top" type="header">Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust</fw><lb/> Szene sich vergleichen könnte. Und da alle echte Poesie unendlich<lb/> ist und immer fortzeugt, so wird bei diesem Anblick in Goethes<lb/> Geist die langgesuchte Schlußszene der Faustdichtung lebendig<lb/> und findet ihren Körper:<lb/><cit><quote><hi rendition="#c">Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde.<lb/><hi rendition="#g">Heilige Anachoreten</hi><lb/> (gebirgauf verteilt, gelagert zwischen Klüften).<lb/><hi rendition="#g">Chor und Echo</hi>.</hi><lb/><hi rendition="#et">(786—795) Waldung, sie schwankt heran,<lb/> Felsen, sie lasten dran,<lb/> Wurzeln, sie klammern an,<lb/> Stamm dicht am Stamm hinan;<lb/> Woge nach Woge spritzt,<lb/> Höhle, die tiefste, schützt;<lb/> Löwen, sie schleichen stumm-<lb/> Freundlich um uns herum,<lb/> Ehren geweihten Ort,<lb/> Heiligen Liebeshort.</hi></quote><bibl/></cit></p><lb/> <p>Wer diese Strophe ohne Kenntnis ihrer Bildquelle liest, wird<lb/> leicht zum Glauben kommen, der Dichter habe bei der Auswahl<lb/> der Bilder ganz wesentlich durch den stimmungsvollen Klang-<lb/> reiz der Assonanzenreihe a-o-ö sich leiten lassen. Allein Goethe<lb/> hat hier das technische Wunder vollbracht, die stärkste musika-<lb/> lische Wirkung mit der gewissenhaftesten Wiedergabe des ge-<lb/> gebenen malerischen Vorbildes zu vereinigen. Ja, selbst solche<lb/> Züge, die wie selbsterfundene Zugaben sich ausnehmen: — die<lb/> spritzende Woge, die schützende Höhle, die schleichenden Löwen,<lb/> — sind dies ganz und gar nicht, sondern wiederum nur Eingebungen<lb/> einer Bildquelle. Es ist eben jene, auf welche Friedländer hin-<lb/> gewiesen hat<note place="foot" n="1)">Unsere Tafel 3 gibt nur die linke Hälfte des umfangreichen Ge-<lb/> mäldes, der die rechte in der allgemeinen Anordnung genau entspricht.</note>. Jetzt können wir freilich bestimmter sagen, daß<lb/> der für Goethe entscheidende Eindruck nicht von diesem Ge-<lb/> mälde, sondern vom »Triumph des Todes« ausging; wohl aber<lb/> nahm Goethe es zu Hilfe, um durch eine Anzahl bedeutender<lb/> Einzelzüge die Schilderung zu bereichern. Auf dieser zweiten<lb/> Darstellung der thebaischen Wüste ist das Leben der Einsiedler<lb/> nicht bloß kontrastierende Episode, wie auf dem »Triumph des<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [230/0286]
Alt-Italienische Gemälde als Quelle zum Faust
Szene sich vergleichen könnte. Und da alle echte Poesie unendlich
ist und immer fortzeugt, so wird bei diesem Anblick in Goethes
Geist die langgesuchte Schlußszene der Faustdichtung lebendig
und findet ihren Körper:
Bergschluchten, Wald, Fels, Einöde.
Heilige Anachoreten
(gebirgauf verteilt, gelagert zwischen Klüften).
Chor und Echo.
(786—795) Waldung, sie schwankt heran,
Felsen, sie lasten dran,
Wurzeln, sie klammern an,
Stamm dicht am Stamm hinan;
Woge nach Woge spritzt,
Höhle, die tiefste, schützt;
Löwen, sie schleichen stumm-
Freundlich um uns herum,
Ehren geweihten Ort,
Heiligen Liebeshort.
Wer diese Strophe ohne Kenntnis ihrer Bildquelle liest, wird
leicht zum Glauben kommen, der Dichter habe bei der Auswahl
der Bilder ganz wesentlich durch den stimmungsvollen Klang-
reiz der Assonanzenreihe a-o-ö sich leiten lassen. Allein Goethe
hat hier das technische Wunder vollbracht, die stärkste musika-
lische Wirkung mit der gewissenhaftesten Wiedergabe des ge-
gebenen malerischen Vorbildes zu vereinigen. Ja, selbst solche
Züge, die wie selbsterfundene Zugaben sich ausnehmen: — die
spritzende Woge, die schützende Höhle, die schleichenden Löwen,
— sind dies ganz und gar nicht, sondern wiederum nur Eingebungen
einer Bildquelle. Es ist eben jene, auf welche Friedländer hin-
gewiesen hat 1). Jetzt können wir freilich bestimmter sagen, daß
der für Goethe entscheidende Eindruck nicht von diesem Ge-
mälde, sondern vom »Triumph des Todes« ausging; wohl aber
nahm Goethe es zu Hilfe, um durch eine Anzahl bedeutender
Einzelzüge die Schilderung zu bereichern. Auf dieser zweiten
Darstellung der thebaischen Wüste ist das Leben der Einsiedler
nicht bloß kontrastierende Episode, wie auf dem »Triumph des
1) Unsere Tafel 3 gibt nur die linke Hälfte des umfangreichen Ge-
mäldes, der die rechte in der allgemeinen Anordnung genau entspricht.
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