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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Rivalität zwischen Raphael und Michelangelo
figur, der Gegenüberstellung des nackten linken Beines gegen das
unter Faltenmassen verschwindende rechte, der ganzen wuchtigen
Körperlichkeit des Mannes usw., setzt alles und jedes eindringende
Studien an der Decke der Sistina voraus. In dieser Tatsache als solcher
läge ja freilich noch nichts Befremdliches. Es gibt Zeugnisse genug,
daß Raphael von der Kunst seines Rivalen starke Eindrücke emp-
fangen und dieselben nichts weniger als verhehlt hat. In welchem
Geiste er sie reproduzierte, zeigen seine Sibyllen in S. Maria della
Pace, seine Schöpfungsbilder in den vatikanischen Loggien. Das ist
nun freilch ein anderer Geist, als der in S. Agostino gewaltet hat.
Hier ist die Nachahmung Michelangelos befangen und äußerlich,
wie sonst bei Raphael nirgends. Die begleitenden Genien z. B.,
auf den Sistinabildern jedesmal in innigstem Bezug zu der seelischen
Bewegung des Propheten (und so nicht minder die zu Raphaels
Sibyllen heranschwebenden Engel), sind hier doch zu bloß deko-
rativen Füllfiguren herabgesetzt. Nur in einem Augenblick, wo
gleichermaßen Selbstbewußtsein wie Selbstkritik ihn verlassen
hatten, konnte Raphael mit diesem Jesaias in den Wettkampf
einzutreten denken.

Ganz anders erzeigen sich die Knabengestalten, wenn wir sie
einzeln für sich betrachten. Suchten wir in allem bisher Betrach-
teten die bekannten künstlerischen Charakterzüge Raphaels um-
sonst wiederzufinden, so sind sie allerdings hier von so echt raphaeli-
schem Geblüt als nur ihr Bruder auf der Madonna Foligno oder
sonst einer aus dieser reizenden Schar. Anstatt aber hierin die ge-
forderte Bekräftigung für die Angabe Vasaris zu finden, sehen wir
nur neue Zweifel rege werden. Der Putto der linken Bildseite hat
nämlich auf dem jetzt in der Akademie S. Luca zu Rom aufbewahr-
ten Fragmente eines anderen, gleichfalls Raphaels Namen tragenden
Freskogemäldes (Taf. 21) einen Doppelgänger, der ihm völligst,
bis auf die letzte Haarlocke, gleichsieht. Mit zuversichtlichster
Bestimmtheit dürfen wir behaupten, daß eine derartig mechaische
Selbstwiederholung bei Raphael ein Ding der Unmöglichkeit ist1)

1) Eine lehrreiche Parallele geben die folgenden drei Bilder: 1. die
Madonna del Baldachino in der Pittigallerie, 2. die Opferung Isaaks an der
Decke der Stanza d'Eliodoro, 3. die Sibyllen in S. Maria della Pace. Ein

Die Rivalität zwischen Raphael und Michelangelo
figur, der Gegenüberstellung des nackten linken Beines gegen das
unter Faltenmassen verschwindende rechte, der ganzen wuchtigen
Körperlichkeit des Mannes usw., setzt alles und jedes eindringende
Studien an der Decke der Sistina voraus. In dieser Tatsache als solcher
läge ja freilich noch nichts Befremdliches. Es gibt Zeugnisse genug,
daß Raphael von der Kunst seines Rivalen starke Eindrücke emp-
fangen und dieselben nichts weniger als verhehlt hat. In welchem
Geiste er sie reproduzierte, zeigen seine Sibyllen in S. Maria della
Pace, seine Schöpfungsbilder in den vatikanischen Loggien. Das ist
nun freilch ein anderer Geist, als der in S. Agostino gewaltet hat.
Hier ist die Nachahmung Michelangelos befangen und äußerlich,
wie sonst bei Raphael nirgends. Die begleitenden Genien z. B.,
auf den Sistinabildern jedesmal in innigstem Bezug zu der seelischen
Bewegung des Propheten (und so nicht minder die zu Raphaels
Sibyllen heranschwebenden Engel), sind hier doch zu bloß deko-
rativen Füllfiguren herabgesetzt. Nur in einem Augenblick, wo
gleichermaßen Selbstbewußtsein wie Selbstkritik ihn verlassen
hatten, konnte Raphael mit diesem Jesaias in den Wettkampf
einzutreten denken.

Ganz anders erzeigen sich die Knabengestalten, wenn wir sie
einzeln für sich betrachten. Suchten wir in allem bisher Betrach-
teten die bekannten künstlerischen Charakterzüge Raphaels um-
sonst wiederzufinden, so sind sie allerdings hier von so echt raphaeli-
schem Geblüt als nur ihr Bruder auf der Madonna Foligno oder
sonst einer aus dieser reizenden Schar. Anstatt aber hierin die ge-
forderte Bekräftigung für die Angabe Vasaris zu finden, sehen wir
nur neue Zweifel rege werden. Der Putto der linken Bildseite hat
nämlich auf dem jetzt in der Akademie S. Luca zu Rom aufbewahr-
ten Fragmente eines anderen, gleichfalls Raphaels Namen tragenden
Freskogemäldes (Taf. 21) einen Doppelgänger, der ihm völligst,
bis auf die letzte Haarlocke, gleichsieht. Mit zuversichtlichster
Bestimmtheit dürfen wir behaupten, daß eine derartig mechaische
Selbstwiederholung bei Raphael ein Ding der Unmöglichkeit ist1)

1) Eine lehrreiche Parallele geben die folgenden drei Bilder: 1. die
Madonna del Baldachino in der Pittigallerie, 2. die Opferung Isaaks an der
Decke der Stanza d'Eliodoro, 3. die Sibyllen in S. Maria della Pace. Ein
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[215/0267] Die Rivalität zwischen Raphael und Michelangelo figur, der Gegenüberstellung des nackten linken Beines gegen das unter Faltenmassen verschwindende rechte, der ganzen wuchtigen Körperlichkeit des Mannes usw., setzt alles und jedes eindringende Studien an der Decke der Sistina voraus. In dieser Tatsache als solcher läge ja freilich noch nichts Befremdliches. Es gibt Zeugnisse genug, daß Raphael von der Kunst seines Rivalen starke Eindrücke emp- fangen und dieselben nichts weniger als verhehlt hat. In welchem Geiste er sie reproduzierte, zeigen seine Sibyllen in S. Maria della Pace, seine Schöpfungsbilder in den vatikanischen Loggien. Das ist nun freilch ein anderer Geist, als der in S. Agostino gewaltet hat. Hier ist die Nachahmung Michelangelos befangen und äußerlich, wie sonst bei Raphael nirgends. Die begleitenden Genien z. B., auf den Sistinabildern jedesmal in innigstem Bezug zu der seelischen Bewegung des Propheten (und so nicht minder die zu Raphaels Sibyllen heranschwebenden Engel), sind hier doch zu bloß deko- rativen Füllfiguren herabgesetzt. Nur in einem Augenblick, wo gleichermaßen Selbstbewußtsein wie Selbstkritik ihn verlassen hatten, konnte Raphael mit diesem Jesaias in den Wettkampf einzutreten denken. Ganz anders erzeigen sich die Knabengestalten, wenn wir sie einzeln für sich betrachten. Suchten wir in allem bisher Betrach- teten die bekannten künstlerischen Charakterzüge Raphaels um- sonst wiederzufinden, so sind sie allerdings hier von so echt raphaeli- schem Geblüt als nur ihr Bruder auf der Madonna Foligno oder sonst einer aus dieser reizenden Schar. Anstatt aber hierin die ge- forderte Bekräftigung für die Angabe Vasaris zu finden, sehen wir nur neue Zweifel rege werden. Der Putto der linken Bildseite hat nämlich auf dem jetzt in der Akademie S. Luca zu Rom aufbewahr- ten Fragmente eines anderen, gleichfalls Raphaels Namen tragenden Freskogemäldes (Taf. 21) einen Doppelgänger, der ihm völligst, bis auf die letzte Haarlocke, gleichsieht. Mit zuversichtlichster Bestimmtheit dürfen wir behaupten, daß eine derartig mechaische Selbstwiederholung bei Raphael ein Ding der Unmöglichkeit ist 1) 1) Eine lehrreiche Parallele geben die folgenden drei Bilder: 1. die Madonna del Baldachino in der Pittigallerie, 2. die Opferung Isaaks an der Decke der Stanza d'Eliodoro, 3. die Sibyllen in S. Maria della Pace. Ein

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/267>, abgerufen am 17.05.2024.