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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Kunst des Mittelalters
Halbsäulen, kurz plastische Glieder; was den Kapitellen, Friesen,
Türbogenfeldern der Pinsel als Zierat gegeben hatte, wird in Meißel-
arbeit umgesetzt; Historienmalerei, figürliche Plastik und ornamen-
tale Kunst grenzen ihre Gebiete bestimmter ab, jedes auf dem
seinigen freier werdend, aber in der Wirkung sich unterstützend.
Die Existenz urgermanischer Formen ist unerwiesen und unglaub-
haft; die wahre Leistung des Mittelalters liegt in der Umdeutung
und Neubelebung dessen, was ihr die Antike, und zwar aus der
doppelten Quelle des Hellenismus und des Orients überliefert
hatte. Selbstverständlich konnte das ohne starke eigene Phantasie-
tätigkeit nicht zustande kommen. Nur zum kleinsten Teil gingen
die Motive direkt von der Baukunst auf die Baukunst über; weit-
aus zum größeren hatten sie gleichsam eine Seelenwanderung
durch den Körper anderer Kunstgattungen durchzumachen. In
der Frühzeit nahmen die Kleinkünste sie in Pflege, in Metall-
arbeiten, in Elfenbeinschnitzereien, in Fadenmalerei und Miniatur-
malerei waren die meisten Formen, deren sich die entfaltete Bau-
kunst bediente, schon von langer Hand vorbereitet. Weiterhin
hat sie die Dekorationsmalerei für den monumentalen Stil appretiert.
Und erst zum Schluß kehrten sie, nun aber völlig verwandelt,
zu dem der Baukunst eigensten Stoff, dem Stein, zurück. Um
das Ergebnis zu verstehen, muß man diese lange Folge technischer
Transformationen im Auge behalten. Es kam einer Neuschöpfung
gleich. Nur jugendliche Völker haben das Glück, das zu können.
Schon die Gotik war auf ornamentalem Gebiet weit unproduktiver.
Bildhauer von heute können romanisches Ornament nicht einmal
kopieren, es gerät ihnen unbegreiflich fade.

Neubildungen in Fülle! Aber immer noch im Rahmen des
Raumbildes und der Konstruktion der Basilika mit flacher Holz-
decke. An die Wurzel des überlieferten Systems griff erst die For-
derung der vollständigen Durchführung des Steinbaus, d. h. des
Übergangs von der flachen Holzdecke zum Gewölbe. Daß sie
nicht ausbleiben konnte, begreift sich leicht. Romanische Kirchen,
deren Holzdecken sich bis heute erhalten haben, gehören zu den
größten Seltenheiten, Brandnachrichten bilden in den Kloster-
chroniken eine stehende Rubrik. Nicht bloß von außen kam die

Die Kunst des Mittelalters
Halbsäulen, kurz plastische Glieder; was den Kapitellen, Friesen,
Türbogenfeldern der Pinsel als Zierat gegeben hatte, wird in Meißel-
arbeit umgesetzt; Historienmalerei, figürliche Plastik und ornamen-
tale Kunst grenzen ihre Gebiete bestimmter ab, jedes auf dem
seinigen freier werdend, aber in der Wirkung sich unterstützend.
Die Existenz urgermanischer Formen ist unerwiesen und unglaub-
haft; die wahre Leistung des Mittelalters liegt in der Umdeutung
und Neubelebung dessen, was ihr die Antike, und zwar aus der
doppelten Quelle des Hellenismus und des Orients überliefert
hatte. Selbstverständlich konnte das ohne starke eigene Phantasie-
tätigkeit nicht zustande kommen. Nur zum kleinsten Teil gingen
die Motive direkt von der Baukunst auf die Baukunst über; weit-
aus zum größeren hatten sie gleichsam eine Seelenwanderung
durch den Körper anderer Kunstgattungen durchzumachen. In
der Frühzeit nahmen die Kleinkünste sie in Pflege, in Metall-
arbeiten, in Elfenbeinschnitzereien, in Fadenmalerei und Miniatur-
malerei waren die meisten Formen, deren sich die entfaltete Bau-
kunst bediente, schon von langer Hand vorbereitet. Weiterhin
hat sie die Dekorationsmalerei für den monumentalen Stil appretiert.
Und erst zum Schluß kehrten sie, nun aber völlig verwandelt,
zu dem der Baukunst eigensten Stoff, dem Stein, zurück. Um
das Ergebnis zu verstehen, muß man diese lange Folge technischer
Transformationen im Auge behalten. Es kam einer Neuschöpfung
gleich. Nur jugendliche Völker haben das Glück, das zu können.
Schon die Gotik war auf ornamentalem Gebiet weit unproduktiver.
Bildhauer von heute können romanisches Ornament nicht einmal
kopieren, es gerät ihnen unbegreiflich fade.

Neubildungen in Fülle! Aber immer noch im Rahmen des
Raumbildes und der Konstruktion der Basilika mit flacher Holz-
decke. An die Wurzel des überlieferten Systems griff erst die For-
derung der vollständigen Durchführung des Steinbaus, d. h. des
Übergangs von der flachen Holzdecke zum Gewölbe. Daß sie
nicht ausbleiben konnte, begreift sich leicht. Romanische Kirchen,
deren Holzdecken sich bis heute erhalten haben, gehören zu den
größten Seltenheiten, Brandnachrichten bilden in den Kloster-
chroniken eine stehende Rubrik. Nicht bloß von außen kam die

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[12/0026] Die Kunst des Mittelalters Halbsäulen, kurz plastische Glieder; was den Kapitellen, Friesen, Türbogenfeldern der Pinsel als Zierat gegeben hatte, wird in Meißel- arbeit umgesetzt; Historienmalerei, figürliche Plastik und ornamen- tale Kunst grenzen ihre Gebiete bestimmter ab, jedes auf dem seinigen freier werdend, aber in der Wirkung sich unterstützend. Die Existenz urgermanischer Formen ist unerwiesen und unglaub- haft; die wahre Leistung des Mittelalters liegt in der Umdeutung und Neubelebung dessen, was ihr die Antike, und zwar aus der doppelten Quelle des Hellenismus und des Orients überliefert hatte. Selbstverständlich konnte das ohne starke eigene Phantasie- tätigkeit nicht zustande kommen. Nur zum kleinsten Teil gingen die Motive direkt von der Baukunst auf die Baukunst über; weit- aus zum größeren hatten sie gleichsam eine Seelenwanderung durch den Körper anderer Kunstgattungen durchzumachen. In der Frühzeit nahmen die Kleinkünste sie in Pflege, in Metall- arbeiten, in Elfenbeinschnitzereien, in Fadenmalerei und Miniatur- malerei waren die meisten Formen, deren sich die entfaltete Bau- kunst bediente, schon von langer Hand vorbereitet. Weiterhin hat sie die Dekorationsmalerei für den monumentalen Stil appretiert. Und erst zum Schluß kehrten sie, nun aber völlig verwandelt, zu dem der Baukunst eigensten Stoff, dem Stein, zurück. Um das Ergebnis zu verstehen, muß man diese lange Folge technischer Transformationen im Auge behalten. Es kam einer Neuschöpfung gleich. Nur jugendliche Völker haben das Glück, das zu können. Schon die Gotik war auf ornamentalem Gebiet weit unproduktiver. Bildhauer von heute können romanisches Ornament nicht einmal kopieren, es gerät ihnen unbegreiflich fade. Neubildungen in Fülle! Aber immer noch im Rahmen des Raumbildes und der Konstruktion der Basilika mit flacher Holz- decke. An die Wurzel des überlieferten Systems griff erst die For- derung der vollständigen Durchführung des Steinbaus, d. h. des Übergangs von der flachen Holzdecke zum Gewölbe. Daß sie nicht ausbleiben konnte, begreift sich leicht. Romanische Kirchen, deren Holzdecken sich bis heute erhalten haben, gehören zu den größten Seltenheiten, Brandnachrichten bilden in den Kloster- chroniken eine stehende Rubrik. Nicht bloß von außen kam die

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/26>, abgerufen am 22.11.2024.