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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert

Es ist kaum zu sagen nötig, daß die neue -- wenigstens für
die Kunstgeschichte neue -- Evolutionstheorie zustande gekom-
men ist unter dem Einfluß naturwissenschaftlicher Analogien. Ich
beabsichtige selbstverständlich an dieser Stelle keine eingehende
Auseinandersetzung. Solange wir daran festhalten, daß der Be-
griff der Gesetzlichkeit in der Geschichte nicht das bedeuten kann
wie in der Natur, so lange muß dasselbe vom Entwicklungsbegriff
gelten. Die geschichtliche Wirklichkeit, so wie wir sie allein kennen,
ist eine unlösliche Ineinanderschiebung von Notwendigkeit und
Freiheit, von Entwicklung und Verwicklung, von Kontinuität und
Diskontinuität. Auf die Kunstgeschichte angewendet heißt das:
alles Geschehen in ihr ist ein Zusammenwirken innerkünstlerischer
und außerkünstlerischer Komponenten. Ihre Stellung zueinander
ist in jedem Augenblick eine neue, geradeso noch nie dagewesene.
Wird die Spannung zwischen beiden so groß, daß die innere, d. i.
die innerkünstlerische Kraftlinie von ihrem logischen Ziel abge-
drängt wird, so entsteht das, was wir eine Krisis nennen.

Unter den vielen, welche die Geschichte der deutschen Kunst
durchzumachen gehabt hat, ist die Krisis des 16. Jahrhunderts
die größte und folgenschwerste; wir dürfen sagen, daß wir noch
heute unter ihrer direkten Wirkung stehen.

An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert stand die deutsche
Kunst so voll im Saft wie vorher nur einmal, im 13. Jahrhundert,
und nachher nie wieder. Wie niemals wieder war in dieser Zeit
die deutsche Kunst volkstümlich, insofern alle gesellschaftlichen
Schichten an ihr teilhatten und in einem gleichgestimmten Ge-
fühl sich in ihr begegneten. Niemals hat das Bildungsprivileg für
unsere Kunst so wenig bedeutet und standen sich kirchliche und
profane Kunst in der Ausdrucksweise so nahe. Ganz überraschend
sind die Zahlen der Statistik. Um irgendein Beispiel herauszu-
greifen: die Stadt Erfurt, nach heutigen Begriffen gerade nur
eine Mittelstadt, besaß achtzig Kirchen und Kapellen, und jede
war mit Kunstwerken gefüllt, Kunstwerken, die keineswegs bloß
der Devotion dienten, sondern ebensosehr Denkmäler des Familien-
sinnes und des Korporationsgeistes waren. Aus dem damaligen
Besitz einer größeren städtischen Pfarrkirche würde sich heute

Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert

Es ist kaum zu sagen nötig, daß die neue — wenigstens für
die Kunstgeschichte neue — Evolutionstheorie zustande gekom-
men ist unter dem Einfluß naturwissenschaftlicher Analogien. Ich
beabsichtige selbstverständlich an dieser Stelle keine eingehende
Auseinandersetzung. Solange wir daran festhalten, daß der Be-
griff der Gesetzlichkeit in der Geschichte nicht das bedeuten kann
wie in der Natur, so lange muß dasselbe vom Entwicklungsbegriff
gelten. Die geschichtliche Wirklichkeit, so wie wir sie allein kennen,
ist eine unlösliche Ineinanderschiebung von Notwendigkeit und
Freiheit, von Entwicklung und Verwicklung, von Kontinuität und
Diskontinuität. Auf die Kunstgeschichte angewendet heißt das:
alles Geschehen in ihr ist ein Zusammenwirken innerkünstlerischer
und außerkünstlerischer Komponenten. Ihre Stellung zueinander
ist in jedem Augenblick eine neue, geradeso noch nie dagewesene.
Wird die Spannung zwischen beiden so groß, daß die innere, d. i.
die innerkünstlerische Kraftlinie von ihrem logischen Ziel abge-
drängt wird, so entsteht das, was wir eine Krisis nennen.

Unter den vielen, welche die Geschichte der deutschen Kunst
durchzumachen gehabt hat, ist die Krisis des 16. Jahrhunderts
die größte und folgenschwerste; wir dürfen sagen, daß wir noch
heute unter ihrer direkten Wirkung stehen.

An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert stand die deutsche
Kunst so voll im Saft wie vorher nur einmal, im 13. Jahrhundert,
und nachher nie wieder. Wie niemals wieder war in dieser Zeit
die deutsche Kunst volkstümlich, insofern alle gesellschaftlichen
Schichten an ihr teilhatten und in einem gleichgestimmten Ge-
fühl sich in ihr begegneten. Niemals hat das Bildungsprivileg für
unsere Kunst so wenig bedeutet und standen sich kirchliche und
profane Kunst in der Ausdrucksweise so nahe. Ganz überraschend
sind die Zahlen der Statistik. Um irgendein Beispiel herauszu-
greifen: die Stadt Erfurt, nach heutigen Begriffen gerade nur
eine Mittelstadt, besaß achtzig Kirchen und Kapellen, und jede
war mit Kunstwerken gefüllt, Kunstwerken, die keineswegs bloß
der Devotion dienten, sondern ebensosehr Denkmäler des Familien-
sinnes und des Korporationsgeistes waren. Aus dem damaligen
Besitz einer größeren städtischen Pfarrkirche würde sich heute

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[148/0190] Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert Es ist kaum zu sagen nötig, daß die neue — wenigstens für die Kunstgeschichte neue — Evolutionstheorie zustande gekom- men ist unter dem Einfluß naturwissenschaftlicher Analogien. Ich beabsichtige selbstverständlich an dieser Stelle keine eingehende Auseinandersetzung. Solange wir daran festhalten, daß der Be- griff der Gesetzlichkeit in der Geschichte nicht das bedeuten kann wie in der Natur, so lange muß dasselbe vom Entwicklungsbegriff gelten. Die geschichtliche Wirklichkeit, so wie wir sie allein kennen, ist eine unlösliche Ineinanderschiebung von Notwendigkeit und Freiheit, von Entwicklung und Verwicklung, von Kontinuität und Diskontinuität. Auf die Kunstgeschichte angewendet heißt das: alles Geschehen in ihr ist ein Zusammenwirken innerkünstlerischer und außerkünstlerischer Komponenten. Ihre Stellung zueinander ist in jedem Augenblick eine neue, geradeso noch nie dagewesene. Wird die Spannung zwischen beiden so groß, daß die innere, d. i. die innerkünstlerische Kraftlinie von ihrem logischen Ziel abge- drängt wird, so entsteht das, was wir eine Krisis nennen. Unter den vielen, welche die Geschichte der deutschen Kunst durchzumachen gehabt hat, ist die Krisis des 16. Jahrhunderts die größte und folgenschwerste; wir dürfen sagen, daß wir noch heute unter ihrer direkten Wirkung stehen. An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert stand die deutsche Kunst so voll im Saft wie vorher nur einmal, im 13. Jahrhundert, und nachher nie wieder. Wie niemals wieder war in dieser Zeit die deutsche Kunst volkstümlich, insofern alle gesellschaftlichen Schichten an ihr teilhatten und in einem gleichgestimmten Ge- fühl sich in ihr begegneten. Niemals hat das Bildungsprivileg für unsere Kunst so wenig bedeutet und standen sich kirchliche und profane Kunst in der Ausdrucksweise so nahe. Ganz überraschend sind die Zahlen der Statistik. Um irgendein Beispiel herauszu- greifen: die Stadt Erfurt, nach heutigen Begriffen gerade nur eine Mittelstadt, besaß achtzig Kirchen und Kapellen, und jede war mit Kunstwerken gefüllt, Kunstwerken, die keineswegs bloß der Devotion dienten, sondern ebensosehr Denkmäler des Familien- sinnes und des Korporationsgeistes waren. Aus dem damaligen Besitz einer größeren städtischen Pfarrkirche würde sich heute

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/190>, abgerufen am 25.11.2024.