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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
davon sind die beiden Büsten, die im Volksmund später Graf
Johann und das schöne Bärbel genannt wurden. Sicher ist auch
der erste große Maler, den die elsässische Kunstgeschichte zu
nennen hat, Martin Schongauer, in seiner Jugend irgendwo und wie
mit dem niederländischen Kreise in folgenreiche Berührung ge-
kommen. Aber gerade Schongauer zeigt zur Evidenz, was bei
aller Ähnlichkeit der formalen Prinzipien im seelischen Kern
deutsche und niederländische Kunst unterscheidet. Daß Schon-
gauer der Sohn eines eingewanderten schwäbischen Goldschmieds
war, soll von mir nicht urgiert werden; ganz gleichgültig ist es
doch nicht. Schließlich war er weit mehr Individuum als Vertreter
eines einzelnen Stammesnaturells. Die Wirkung seiner Kunst
erstreckte sich über ganz Deutschland. Man findet Kopien seiner
Kompositionen bis in thüringische Dorfkirchen, und man hat einiges
Recht, Dürer seinen Schüler zu nennen. Es geschah zum ersten-
mal wieder seit dem Straßburger Münsterbau des 13. Jahrhunderts,
daß eine im Elsaß sitzende Kunst so weit ausstrahlte. Schon-
gauer erreichte das allerdings nicht durch die Kunst seines Pinsels,
sondern als der erste bedeutende Maler, der seine Gedanken der
neuen Technik des Bilddrucks, des Kupferstichs, anvertraute.
Es ist eine nicht ganz grundlose Hypothese, daß auch der beste
unter seinen Vorläufern, der Stecher mit dem Monogramm ES,
ein Elsässer war. Die soziale Entwicklung des Zeitalters forderte
von der Kunst Eindringen in die Massen, Besitzergreifung des Bürger-
hauses. Es währte nicht lange, so ging der Bilddruck ein Bündnis
mit dem Buchdruck ein. Am Ende des 15. Jahrhunderts und das
ganze 16. hindurch war Straßburg im Wetteifer mit Basel einer der
betriebsamsten Verlagsorte in der Gattung der illustrierten Bücher.

Ich wiederhole: es ist ein schmählicher Verlust, daß die Er-
zeugnisse dieser Epoche des Vorabends der Reformation, der
lebenskräftigsten in der elsässischen Kunst nächst der staufischen,
aber farbiger, bewegter, beziehungsreicher als diese, daß gerade
sie auf wenige Reste zusammengeschmolzen, verkommen, ver-
schleudert sind. Von den Werken des Hauptrepräsentanten der
nachschongauerschen Zeit, Hans Baldungs, fanden wir 1870 kein
einziges mehr im Lande vor. Jetzt besitzen wir wieder einige als

Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß
davon sind die beiden Büsten, die im Volksmund später Graf
Johann und das schöne Bärbel genannt wurden. Sicher ist auch
der erste große Maler, den die elsässische Kunstgeschichte zu
nennen hat, Martin Schongauer, in seiner Jugend irgendwo und wie
mit dem niederländischen Kreise in folgenreiche Berührung ge-
kommen. Aber gerade Schongauer zeigt zur Evidenz, was bei
aller Ähnlichkeit der formalen Prinzipien im seelischen Kern
deutsche und niederländische Kunst unterscheidet. Daß Schon-
gauer der Sohn eines eingewanderten schwäbischen Goldschmieds
war, soll von mir nicht urgiert werden; ganz gleichgültig ist es
doch nicht. Schließlich war er weit mehr Individuum als Vertreter
eines einzelnen Stammesnaturells. Die Wirkung seiner Kunst
erstreckte sich über ganz Deutschland. Man findet Kopien seiner
Kompositionen bis in thüringische Dorfkirchen, und man hat einiges
Recht, Dürer seinen Schüler zu nennen. Es geschah zum ersten-
mal wieder seit dem Straßburger Münsterbau des 13. Jahrhunderts,
daß eine im Elsaß sitzende Kunst so weit ausstrahlte. Schon-
gauer erreichte das allerdings nicht durch die Kunst seines Pinsels,
sondern als der erste bedeutende Maler, der seine Gedanken der
neuen Technik des Bilddrucks, des Kupferstichs, anvertraute.
Es ist eine nicht ganz grundlose Hypothese, daß auch der beste
unter seinen Vorläufern, der Stecher mit dem Monogramm ES,
ein Elsässer war. Die soziale Entwicklung des Zeitalters forderte
von der Kunst Eindringen in die Massen, Besitzergreifung des Bürger-
hauses. Es währte nicht lange, so ging der Bilddruck ein Bündnis
mit dem Buchdruck ein. Am Ende des 15. Jahrhunderts und das
ganze 16. hindurch war Straßburg im Wetteifer mit Basel einer der
betriebsamsten Verlagsorte in der Gattung der illustrierten Bücher.

Ich wiederhole: es ist ein schmählicher Verlust, daß die Er-
zeugnisse dieser Epoche des Vorabends der Reformation, der
lebenskräftigsten in der elsässischen Kunst nächst der staufischen,
aber farbiger, bewegter, beziehungsreicher als diese, daß gerade
sie auf wenige Reste zusammengeschmolzen, verkommen, ver-
schleudert sind. Von den Werken des Hauptrepräsentanten der
nachschongauerschen Zeit, Hans Baldungs, fanden wir 1870 kein
einziges mehr im Lande vor. Jetzt besitzen wir wieder einige als

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[86/0100] Historische Betrachtungen über die Kunst im Elsaß davon sind die beiden Büsten, die im Volksmund später Graf Johann und das schöne Bärbel genannt wurden. Sicher ist auch der erste große Maler, den die elsässische Kunstgeschichte zu nennen hat, Martin Schongauer, in seiner Jugend irgendwo und wie mit dem niederländischen Kreise in folgenreiche Berührung ge- kommen. Aber gerade Schongauer zeigt zur Evidenz, was bei aller Ähnlichkeit der formalen Prinzipien im seelischen Kern deutsche und niederländische Kunst unterscheidet. Daß Schon- gauer der Sohn eines eingewanderten schwäbischen Goldschmieds war, soll von mir nicht urgiert werden; ganz gleichgültig ist es doch nicht. Schließlich war er weit mehr Individuum als Vertreter eines einzelnen Stammesnaturells. Die Wirkung seiner Kunst erstreckte sich über ganz Deutschland. Man findet Kopien seiner Kompositionen bis in thüringische Dorfkirchen, und man hat einiges Recht, Dürer seinen Schüler zu nennen. Es geschah zum ersten- mal wieder seit dem Straßburger Münsterbau des 13. Jahrhunderts, daß eine im Elsaß sitzende Kunst so weit ausstrahlte. Schon- gauer erreichte das allerdings nicht durch die Kunst seines Pinsels, sondern als der erste bedeutende Maler, der seine Gedanken der neuen Technik des Bilddrucks, des Kupferstichs, anvertraute. Es ist eine nicht ganz grundlose Hypothese, daß auch der beste unter seinen Vorläufern, der Stecher mit dem Monogramm ES, ein Elsässer war. Die soziale Entwicklung des Zeitalters forderte von der Kunst Eindringen in die Massen, Besitzergreifung des Bürger- hauses. Es währte nicht lange, so ging der Bilddruck ein Bündnis mit dem Buchdruck ein. Am Ende des 15. Jahrhunderts und das ganze 16. hindurch war Straßburg im Wetteifer mit Basel einer der betriebsamsten Verlagsorte in der Gattung der illustrierten Bücher. Ich wiederhole: es ist ein schmählicher Verlust, daß die Er- zeugnisse dieser Epoche des Vorabends der Reformation, der lebenskräftigsten in der elsässischen Kunst nächst der staufischen, aber farbiger, bewegter, beziehungsreicher als diese, daß gerade sie auf wenige Reste zusammengeschmolzen, verkommen, ver- schleudert sind. Von den Werken des Hauptrepräsentanten der nachschongauerschen Zeit, Hans Baldungs, fanden wir 1870 kein einziges mehr im Lande vor. Jetzt besitzen wir wieder einige als

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/100>, abgerufen am 24.11.2024.