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Darwin, Charles: Insectenfressende Pflanzen. Übers. v. Julius Victor Carus. Stuttgart, 1876.

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Cap. 10. Übermittelung des motorischen Impulses.
takeln an den nächsten und entferntesten Punkten des Blattes (d. h.
nach der Spitze und der Basis, oder dem Stielende zu) viel mehr ein-
gebogen waren, als auf den beiden Seiten; und doch standen die
Tentakeln anf den Seiten der Drüse, wo das Stückchen Fleisch lag,
genau so nahe wie die an den beiden Enden. Es schien hiernach,
als würde der motorische Impuls von dem Centrum aus quer über die
Scheibe leichter in einer longitudinalen als in einer queren Richtung
übermittelt; und da dies eine neue und interessante Thatsache in der
Physiologie der Pflanzen zu sein schien, so wurden fünf und dreiszig
frische Experimente angestellt, um ihre Richtigkeit zu prüfen. Minu-
tiöse Stückchen Fleisch wurden auf eine einzelne oder auf einige
wenige Drüsen auf der rechten oder linken Seite der Scheibe von
achtzehn Blättern gelegt; während andere Stückchen von der näm-
lichen Grösze auf die nächsten und entfernten Ende von siebenzehn
andern Blättern gethan wurden. Wenn nun der motorische Impuls
mit gleicher Kraft oder mit gleicher Geschwindigkeit durch die Blatt-
scheibe in allen Richtungen hin übermittelt würde, so müszte ein
Stückchen Fleisch, welches auf eine Seite oder an das eine Ende der
Scheibe gelegt wurde, gleichmäszig alle in gleicher Entfernung von
ihm gelegene Tentakeln afficiren; dies war aber sicherlich nicht der
Fall. Ehe ich die allgemeinen Resultate mittheile, ist es wohl der
Mühe werth, drei oder vier ziemlich ungewöhnliche Fälle zu be-
schreiben.

1. Ein äuszerst kleines Bruchstück einer Fliege wurde auf die eine
Seite der Scheibe gelegt, und nach 32 Minuten waren sieben der äuszern
Tentakeln in der Nähe des Bruchstücks eingebogen; nach 10 Stunden
wurden es noch verschiedene mehr und nach 23 Stunden eine noch
gröszere Anzahl; jetzt wurde auch die Scheibe des Blattes auf dieser
Seite einwärts gebogen, so dasz sie zu der der andern Seite im rechten
Winkel aufrecht stand. Weder die Scheibe des Blattes noch ein einziger
Tentakel auf der gegenüberliegenden Seite war afficirt; die Trennungs-
linie zwischen den beiden Hälften erstreckte sich vom Stiele bis zur
Blattspitze. Das Blatt blieb drei Tage lang in diesem Zustande, am
vierten Tage begann es sich wieder auszubreiten; auf der gegenüber-
liegenden Seite war nicht ein einziger Tentakel eingebogen worden.
2. Ich will hier einen Fall mittheilen, der nicht mit in den oben
erwähnten fünf und dreiszig Experimenten eingeschlossen ist. Eine kleine
Fliege wurde gefunden, welche mit ihren Füszen der linken Seite der
Scheibe anhieng. Die Tentakeln auf dieser Seite bogen sich bald dicht
ein und tödteten die Fliege; wahrscheinlich in Folge des Kämpfens, so
lange die Fliege lebendig war, war das Blatt so sehr gereizt, dasz in

Cap. 10. Übermittelung des motorischen Impulses.
takeln an den nächsten und entferntesten Punkten des Blattes (d. h.
nach der Spitze und der Basis, oder dem Stielende zu) viel mehr ein-
gebogen waren, als auf den beiden Seiten; und doch standen die
Tentakeln anf den Seiten der Drüse, wo das Stückchen Fleisch lag,
genau so nahe wie die an den beiden Enden. Es schien hiernach,
als würde der motorische Impuls von dem Centrum aus quer über die
Scheibe leichter in einer longitudinalen als in einer queren Richtung
übermittelt; und da dies eine neue und interessante Thatsache in der
Physiologie der Pflanzen zu sein schien, so wurden fünf und dreiszig
frische Experimente angestellt, um ihre Richtigkeit zu prüfen. Minu-
tiöse Stückchen Fleisch wurden auf eine einzelne oder auf einige
wenige Drüsen auf der rechten oder linken Seite der Scheibe von
achtzehn Blättern gelegt; während andere Stückchen von der näm-
lichen Grösze auf die nächsten und entfernten Ende von siebenzehn
andern Blättern gethan wurden. Wenn nun der motorische Impuls
mit gleicher Kraft oder mit gleicher Geschwindigkeit durch die Blatt-
scheibe in allen Richtungen hin übermittelt würde, so müszte ein
Stückchen Fleisch, welches auf eine Seite oder an das eine Ende der
Scheibe gelegt wurde, gleichmäszig alle in gleicher Entfernung von
ihm gelegene Tentakeln afficiren; dies war aber sicherlich nicht der
Fall. Ehe ich die allgemeinen Resultate mittheile, ist es wohl der
Mühe werth, drei oder vier ziemlich ungewöhnliche Fälle zu be-
schreiben.

1. Ein äuszerst kleines Bruchstück einer Fliege wurde auf die eine
Seite der Scheibe gelegt, und nach 32 Minuten waren sieben der äuszern
Tentakeln in der Nähe des Bruchstücks eingebogen; nach 10 Stunden
wurden es noch verschiedene mehr und nach 23 Stunden eine noch
gröszere Anzahl; jetzt wurde auch die Scheibe des Blattes auf dieser
Seite einwärts gebogen, so dasz sie zu der der andern Seite im rechten
Winkel aufrecht stand. Weder die Scheibe des Blattes noch ein einziger
Tentakel auf der gegenüberliegenden Seite war afficirt; die Trennungs-
linie zwischen den beiden Hälften erstreckte sich vom Stiele bis zur
Blattspitze. Das Blatt blieb drei Tage lang in diesem Zustande, am
vierten Tage begann es sich wieder auszubreiten; auf der gegenüber-
liegenden Seite war nicht ein einziger Tentakel eingebogen worden.
2. Ich will hier einen Fall mittheilen, der nicht mit in den oben
erwähnten fünf und dreiszig Experimenten eingeschlossen ist. Eine kleine
Fliege wurde gefunden, welche mit ihren Füszen der linken Seite der
Scheibe anhieng. Die Tentakeln auf dieser Seite bogen sich bald dicht
ein und tödteten die Fliege; wahrscheinlich in Folge des Kämpfens, so
lange die Fliege lebendig war, war das Blatt so sehr gereizt, dasz in
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[215/0229] Cap. 10. Übermittelung des motorischen Impulses. takeln an den nächsten und entferntesten Punkten des Blattes (d. h. nach der Spitze und der Basis, oder dem Stielende zu) viel mehr ein- gebogen waren, als auf den beiden Seiten; und doch standen die Tentakeln anf den Seiten der Drüse, wo das Stückchen Fleisch lag, genau so nahe wie die an den beiden Enden. Es schien hiernach, als würde der motorische Impuls von dem Centrum aus quer über die Scheibe leichter in einer longitudinalen als in einer queren Richtung übermittelt; und da dies eine neue und interessante Thatsache in der Physiologie der Pflanzen zu sein schien, so wurden fünf und dreiszig frische Experimente angestellt, um ihre Richtigkeit zu prüfen. Minu- tiöse Stückchen Fleisch wurden auf eine einzelne oder auf einige wenige Drüsen auf der rechten oder linken Seite der Scheibe von achtzehn Blättern gelegt; während andere Stückchen von der näm- lichen Grösze auf die nächsten und entfernten Ende von siebenzehn andern Blättern gethan wurden. Wenn nun der motorische Impuls mit gleicher Kraft oder mit gleicher Geschwindigkeit durch die Blatt- scheibe in allen Richtungen hin übermittelt würde, so müszte ein Stückchen Fleisch, welches auf eine Seite oder an das eine Ende der Scheibe gelegt wurde, gleichmäszig alle in gleicher Entfernung von ihm gelegene Tentakeln afficiren; dies war aber sicherlich nicht der Fall. Ehe ich die allgemeinen Resultate mittheile, ist es wohl der Mühe werth, drei oder vier ziemlich ungewöhnliche Fälle zu be- schreiben. 1. Ein äuszerst kleines Bruchstück einer Fliege wurde auf die eine Seite der Scheibe gelegt, und nach 32 Minuten waren sieben der äuszern Tentakeln in der Nähe des Bruchstücks eingebogen; nach 10 Stunden wurden es noch verschiedene mehr und nach 23 Stunden eine noch gröszere Anzahl; jetzt wurde auch die Scheibe des Blattes auf dieser Seite einwärts gebogen, so dasz sie zu der der andern Seite im rechten Winkel aufrecht stand. Weder die Scheibe des Blattes noch ein einziger Tentakel auf der gegenüberliegenden Seite war afficirt; die Trennungs- linie zwischen den beiden Hälften erstreckte sich vom Stiele bis zur Blattspitze. Das Blatt blieb drei Tage lang in diesem Zustande, am vierten Tage begann es sich wieder auszubreiten; auf der gegenüber- liegenden Seite war nicht ein einziger Tentakel eingebogen worden. 2. Ich will hier einen Fall mittheilen, der nicht mit in den oben erwähnten fünf und dreiszig Experimenten eingeschlossen ist. Eine kleine Fliege wurde gefunden, welche mit ihren Füszen der linken Seite der Scheibe anhieng. Die Tentakeln auf dieser Seite bogen sich bald dicht ein und tödteten die Fliege; wahrscheinlich in Folge des Kämpfens, so lange die Fliege lebendig war, war das Blatt so sehr gereizt, dasz in

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Zitationshilfe: Darwin, Charles: Insectenfressende Pflanzen. Übers. v. Julius Victor Carus. Stuttgart, 1876, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/darwin_pflanzen_1876/229>, abgerufen am 02.05.2024.