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Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

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Religion und Kirche im Staate.
gültigen spielen könne gegen die Religion, welche die Sitte
heiligt, indem sie solche auf ihren Urquell zurückführt,
welche indeß auch Unsitte heiligsprechen kann. Aber auch
die stärkste Vereinzelung der Religionspflege geht nothwen-
dig über den Einzelnen hinaus, der Vater redet davon zu
seinem Kinde, führt häusliche Weisen der Andacht ein; die
Religion ist mindestens Familiensache. Die einfachsten Zu-
stände der Menschheit zeigen die Hausväter als Priester,
der Stamm-Älteste versieht die Opfer seines Stammes,
der König des Volks; Priesterthum ist Theil der Re-
gierung.

291. Die Alten kannten wenig Irrlehren, die Viel-
götterei ist von Natur duldsam, niemand leugnete dem An-
dern so leicht seinen Gott ab, wohl aber die Macht seines
Gottes. Ableugner wurden gehaßt, bestraft, man verbot
des Diagoras Schriften, ließ Sokrates sterben, weil er die
Jugend von den vaterländischen Göttern abwandte. Ge-
wiß er that das, aber wandte sie der einen Gottheit zu,
und da er seines Glaubens lebte, besonders aber da er
für ihn starb, so fehlte von dieser Seite wenig, daß er
nicht Religionsstifter geworden wäre. Die Ansicht des Po-
lybius, daß dieses ganze Fach wohl überflüssig seyn möchte,
vorausgesetzt, daß der Staat aus lauter einsichtsvollen Leu-
ten bestände, war durchaus nicht die seine. Indeß erhielt
Sokrates sich doch mehr bloß verneinend gegen die alten
Religionsirrthümer, während er sich des Materials der
vaterländischen Götterverehrung für seine Darstellungen be-
diente, auch die vaterländischen Opfer keineswegs ver-
schmähte. Was Sokrates nicht vermochte in Bezug auf
einen sehr ausgearteten Cultus, sollte es für den jetzigen
Staat in Beziehung auf das Christenthum, ich will nicht

Religion und Kirche im Staate.
guͤltigen ſpielen koͤnne gegen die Religion, welche die Sitte
heiligt, indem ſie ſolche auf ihren Urquell zuruͤckfuͤhrt,
welche indeß auch Unſitte heiligſprechen kann. Aber auch
die ſtaͤrkſte Vereinzelung der Religionspflege geht nothwen-
dig uͤber den Einzelnen hinaus, der Vater redet davon zu
ſeinem Kinde, fuͤhrt haͤusliche Weiſen der Andacht ein; die
Religion iſt mindeſtens Familienſache. Die einfachſten Zu-
ſtaͤnde der Menſchheit zeigen die Hausvaͤter als Prieſter,
der Stamm-Älteſte verſieht die Opfer ſeines Stammes,
der Koͤnig des Volks; Prieſterthum iſt Theil der Re-
gierung.

291. Die Alten kannten wenig Irrlehren, die Viel-
goͤtterei iſt von Natur duldſam, niemand leugnete dem An-
dern ſo leicht ſeinen Gott ab, wohl aber die Macht ſeines
Gottes. Ableugner wurden gehaßt, beſtraft, man verbot
des Diagoras Schriften, ließ Sokrates ſterben, weil er die
Jugend von den vaterlaͤndiſchen Goͤttern abwandte. Ge-
wiß er that das, aber wandte ſie der einen Gottheit zu,
und da er ſeines Glaubens lebte, beſonders aber da er
fuͤr ihn ſtarb, ſo fehlte von dieſer Seite wenig, daß er
nicht Religionsſtifter geworden waͤre. Die Anſicht des Po-
lybius, daß dieſes ganze Fach wohl uͤberfluͤſſig ſeyn moͤchte,
vorausgeſetzt, daß der Staat aus lauter einſichtsvollen Leu-
ten beſtaͤnde, war durchaus nicht die ſeine. Indeß erhielt
Sokrates ſich doch mehr bloß verneinend gegen die alten
Religionsirrthuͤmer, waͤhrend er ſich des Materials der
vaterlaͤndiſchen Goͤtterverehrung fuͤr ſeine Darſtellungen be-
diente, auch die vaterlaͤndiſchen Opfer keineswegs ver-
ſchmaͤhte. Was Sokrates nicht vermochte in Bezug auf
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Staat in Beziehung auf das Chriſtenthum, ich will nicht

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[311/0323] Religion und Kirche im Staate. guͤltigen ſpielen koͤnne gegen die Religion, welche die Sitte heiligt, indem ſie ſolche auf ihren Urquell zuruͤckfuͤhrt, welche indeß auch Unſitte heiligſprechen kann. Aber auch die ſtaͤrkſte Vereinzelung der Religionspflege geht nothwen- dig uͤber den Einzelnen hinaus, der Vater redet davon zu ſeinem Kinde, fuͤhrt haͤusliche Weiſen der Andacht ein; die Religion iſt mindeſtens Familienſache. Die einfachſten Zu- ſtaͤnde der Menſchheit zeigen die Hausvaͤter als Prieſter, der Stamm-Älteſte verſieht die Opfer ſeines Stammes, der Koͤnig des Volks; Prieſterthum iſt Theil der Re- gierung. 291. Die Alten kannten wenig Irrlehren, die Viel- goͤtterei iſt von Natur duldſam, niemand leugnete dem An- dern ſo leicht ſeinen Gott ab, wohl aber die Macht ſeines Gottes. Ableugner wurden gehaßt, beſtraft, man verbot des Diagoras Schriften, ließ Sokrates ſterben, weil er die Jugend von den vaterlaͤndiſchen Goͤttern abwandte. Ge- wiß er that das, aber wandte ſie der einen Gottheit zu, und da er ſeines Glaubens lebte, beſonders aber da er fuͤr ihn ſtarb, ſo fehlte von dieſer Seite wenig, daß er nicht Religionsſtifter geworden waͤre. Die Anſicht des Po- lybius, daß dieſes ganze Fach wohl uͤberfluͤſſig ſeyn moͤchte, vorausgeſetzt, daß der Staat aus lauter einſichtsvollen Leu- ten beſtaͤnde, war durchaus nicht die ſeine. Indeß erhielt Sokrates ſich doch mehr bloß verneinend gegen die alten Religionsirrthuͤmer, waͤhrend er ſich des Materials der vaterlaͤndiſchen Goͤtterverehrung fuͤr ſeine Darſtellungen be- diente, auch die vaterlaͤndiſchen Opfer keineswegs ver- ſchmaͤhte. Was Sokrates nicht vermochte in Bezug auf einen ſehr ausgearteten Cultus, ſollte es fuͤr den jetzigen Staat in Beziehung auf das Chriſtenthum, ich will nicht

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Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/323>, abgerufen am 24.11.2024.