Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Blick auf d. Systematik d. Staatswissensch.
der Kirchengewalt im Staate gebühre. Weit schwerer als
Unrecht dulden ist das Maas seiner Rechte halten.

224. So gewaltig aber der Kampf einer ihr Ziel über-
springenden Kirchen-Herrschaft gegen den halb trotzig, halb
verzagt widerstrebenden weltlichen Arm die Staaten des
Welttheils bewegte, die Gewissen der Unterthanen verwir-
rend, so war der Ausgang doch fast gehaltlos zu nennen
gegen die stillen Siege, die das Christenthum inzwischen
im innern Leben der Bevölkerungen feierte. Es entschied sich
mehr und mehr dem Grundsatze nach (wie zögernd auch
in der Vollführung), daß keine Menschen-Opfer länger
dem Staats-Götzen gebracht werden dürfen; die Sclave-
rei ward, so weit die Religion ihrer Herr werden kann,
abgethan; das Strafrecht erhielt eine sittlichere Begrün-
dung; es ward in der christlichen Freiheit ein lebendiges
Menschenrecht, das den Menschen von Gottes wegen ge-
bührt, geheiligt; in der christlichen Gesinnung lag die Si-
cherheit, daß sie, die immer mit der eigenen Prüfung an-
fängt, sich nicht über die weltliche Ordnung erhebe.

225. Es lag nicht allein daran, daß bloß der geist-
liche Stand nachdenklich lebte und Bücher schrieb, es lag
unmittelbar in den Thaten dieser umgestaltenden Religion,
daß der Staat fast nur von der kirchlichen Seite ergriffen,
Staatsweisheit aber unter der Form der Fürsten-Bildung
gelehrt ward. So mit einigen Byzantinern Thomas von
Aquino, Vinzenz von Beauvais; so auch der gelehrte Abt
Engelbert von Admont. Die Staatslehrer des Alterthums
handeln stets am ausführlichsten von der Erziehung des
Staatsvolks; allein in den Tagen der Christenheit stand
die Volksbildung in ihren leitenden Ideen durch die heili-

13*

Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch.
der Kirchengewalt im Staate gebuͤhre. Weit ſchwerer als
Unrecht dulden iſt das Maas ſeiner Rechte halten.

224. So gewaltig aber der Kampf einer ihr Ziel uͤber-
ſpringenden Kirchen-Herrſchaft gegen den halb trotzig, halb
verzagt widerſtrebenden weltlichen Arm die Staaten des
Welttheils bewegte, die Gewiſſen der Unterthanen verwir-
rend, ſo war der Ausgang doch faſt gehaltlos zu nennen
gegen die ſtillen Siege, die das Chriſtenthum inzwiſchen
im innern Leben der Bevoͤlkerungen feierte. Es entſchied ſich
mehr und mehr dem Grundſatze nach (wie zoͤgernd auch
in der Vollfuͤhrung), daß keine Menſchen-Opfer laͤnger
dem Staats-Goͤtzen gebracht werden duͤrfen; die Sclave-
rei ward, ſo weit die Religion ihrer Herr werden kann,
abgethan; das Strafrecht erhielt eine ſittlichere Begruͤn-
dung; es ward in der chriſtlichen Freiheit ein lebendiges
Menſchenrecht, das den Menſchen von Gottes wegen ge-
buͤhrt, geheiligt; in der chriſtlichen Geſinnung lag die Si-
cherheit, daß ſie, die immer mit der eigenen Pruͤfung an-
faͤngt, ſich nicht uͤber die weltliche Ordnung erhebe.

225. Es lag nicht allein daran, daß bloß der geiſt-
liche Stand nachdenklich lebte und Buͤcher ſchrieb, es lag
unmittelbar in den Thaten dieſer umgeſtaltenden Religion,
daß der Staat faſt nur von der kirchlichen Seite ergriffen,
Staatsweisheit aber unter der Form der Fuͤrſten-Bildung
gelehrt ward. So mit einigen Byzantinern Thomas von
Aquino, Vinzenz von Beauvais; ſo auch der gelehrte Abt
Engelbert von Admont. Die Staatslehrer des Alterthums
handeln ſtets am ausfuͤhrlichſten von der Erziehung des
Staatsvolks; allein in den Tagen der Chriſtenheit ſtand
die Volksbildung in ihren leitenden Ideen durch die heili-

13*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0207" n="195"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Blick auf d. Sy&#x017F;tematik d. Staatswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;ch</hi>.</fw><lb/>
der Kirchengewalt im Staate gebu&#x0364;hre. Weit &#x017F;chwerer als<lb/>
Unrecht dulden i&#x017F;t das Maas &#x017F;einer Rechte halten.</p><lb/>
            <p>224. So gewaltig aber der Kampf einer ihr Ziel u&#x0364;ber-<lb/>
&#x017F;pringenden Kirchen-Herr&#x017F;chaft gegen den halb trotzig, halb<lb/>
verzagt wider&#x017F;trebenden weltlichen Arm die Staaten des<lb/>
Welttheils bewegte, die Gewi&#x017F;&#x017F;en der Unterthanen verwir-<lb/>
rend, &#x017F;o war der Ausgang doch fa&#x017F;t gehaltlos zu nennen<lb/>
gegen die &#x017F;tillen Siege, die das Chri&#x017F;tenthum inzwi&#x017F;chen<lb/>
im innern Leben der Bevo&#x0364;lkerungen feierte. Es ent&#x017F;chied &#x017F;ich<lb/>
mehr und mehr dem Grund&#x017F;atze nach (wie zo&#x0364;gernd auch<lb/>
in der Vollfu&#x0364;hrung), daß keine Men&#x017F;chen-Opfer la&#x0364;nger<lb/>
dem Staats-Go&#x0364;tzen gebracht werden du&#x0364;rfen; die Sclave-<lb/>
rei ward, &#x017F;o weit die Religion ihrer Herr werden kann,<lb/>
abgethan; das Strafrecht erhielt eine &#x017F;ittlichere Begru&#x0364;n-<lb/>
dung; es ward in der chri&#x017F;tlichen Freiheit ein lebendiges<lb/>
Men&#x017F;chenrecht, das den Men&#x017F;chen von Gottes wegen ge-<lb/>
bu&#x0364;hrt, geheiligt; in der chri&#x017F;tlichen Ge&#x017F;innung lag die Si-<lb/>
cherheit, daß &#x017F;ie, die immer mit der eigenen Pru&#x0364;fung an-<lb/>
fa&#x0364;ngt, &#x017F;ich nicht u&#x0364;ber die weltliche Ordnung erhebe.</p><lb/>
            <p>225. Es lag nicht allein daran, daß bloß der gei&#x017F;t-<lb/>
liche Stand nachdenklich lebte und Bu&#x0364;cher &#x017F;chrieb, es lag<lb/>
unmittelbar in den Thaten die&#x017F;er umge&#x017F;taltenden Religion,<lb/>
daß der Staat fa&#x017F;t nur von der kirchlichen Seite ergriffen,<lb/>
Staatsweisheit aber unter der Form der Fu&#x0364;r&#x017F;ten-Bildung<lb/>
gelehrt ward. So mit einigen Byzantinern Thomas von<lb/>
Aquino, Vinzenz von Beauvais; &#x017F;o auch der gelehrte Abt<lb/>
Engelbert von Admont. Die Staatslehrer des Alterthums<lb/>
handeln &#x017F;tets am ausfu&#x0364;hrlich&#x017F;ten von der Erziehung des<lb/>
Staatsvolks; allein in den Tagen der Chri&#x017F;tenheit &#x017F;tand<lb/>
die Volksbildung in ihren leitenden Ideen durch die heili-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">13*</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[195/0207] Blick auf d. Syſtematik d. Staatswiſſenſch. der Kirchengewalt im Staate gebuͤhre. Weit ſchwerer als Unrecht dulden iſt das Maas ſeiner Rechte halten. 224. So gewaltig aber der Kampf einer ihr Ziel uͤber- ſpringenden Kirchen-Herrſchaft gegen den halb trotzig, halb verzagt widerſtrebenden weltlichen Arm die Staaten des Welttheils bewegte, die Gewiſſen der Unterthanen verwir- rend, ſo war der Ausgang doch faſt gehaltlos zu nennen gegen die ſtillen Siege, die das Chriſtenthum inzwiſchen im innern Leben der Bevoͤlkerungen feierte. Es entſchied ſich mehr und mehr dem Grundſatze nach (wie zoͤgernd auch in der Vollfuͤhrung), daß keine Menſchen-Opfer laͤnger dem Staats-Goͤtzen gebracht werden duͤrfen; die Sclave- rei ward, ſo weit die Religion ihrer Herr werden kann, abgethan; das Strafrecht erhielt eine ſittlichere Begruͤn- dung; es ward in der chriſtlichen Freiheit ein lebendiges Menſchenrecht, das den Menſchen von Gottes wegen ge- buͤhrt, geheiligt; in der chriſtlichen Geſinnung lag die Si- cherheit, daß ſie, die immer mit der eigenen Pruͤfung an- faͤngt, ſich nicht uͤber die weltliche Ordnung erhebe. 225. Es lag nicht allein daran, daß bloß der geiſt- liche Stand nachdenklich lebte und Buͤcher ſchrieb, es lag unmittelbar in den Thaten dieſer umgeſtaltenden Religion, daß der Staat faſt nur von der kirchlichen Seite ergriffen, Staatsweisheit aber unter der Form der Fuͤrſten-Bildung gelehrt ward. So mit einigen Byzantinern Thomas von Aquino, Vinzenz von Beauvais; ſo auch der gelehrte Abt Engelbert von Admont. Die Staatslehrer des Alterthums handeln ſtets am ausfuͤhrlichſten von der Erziehung des Staatsvolks; allein in den Tagen der Chriſtenheit ſtand die Volksbildung in ihren leitenden Ideen durch die heili- 13*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/207
Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/207>, abgerufen am 23.11.2024.