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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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3. S. en steht auf den ersten Blick vereinzelt da. Denn ab-
gesehen von jenem n, das das ephelkystische genannt zu wer-
den, aber nur nach kurzen Vocalen einzutreten pflegt, ist der
Nasal der dritten Person Sing. fremd. Aus diesem Grunde
fasse ich das jüngere en als Contraction aus dem daneben bei
Homer erhaltenen een auf (Verb. I2176 f.). en verhält sich zu
een wie die Conjunction e zu ee und e zu ee. Auch diese
Partikeln sind bei Homer sowohl in der offenen, wie in der
zusammengezogenen Form erhalten. Brugmann Morph. Unters.
I, 36 verwirft diese Erklärung mit dem Einwand, "er glaube
nicht an fest gewachsenes n ephelkustikon". Sollte sich diese
Differenz nicht aus dem Gebiet des Glaubens in das des Wis-
sens hinüber führen lassen? Ich glaube, ja. Der Ausweg,
den Brugmann gefunden zu haben glaubt, ist mit dem ein-
fachen und durchschlagenden Grunde widerlegbar, dass die
Form, der eine assimilirende Wirkung zugesprochen wird, zur
Zeit, da dies hätte geschehen müssen, gar nicht vorhanden
war. B. meint, die Form en als 3. S. sei der 1. S. gleich-
gemacht. Aber en kommt als 1. S. viel später vor, denn als
3. S. Die 1. S. lautet bekanntlich bei Homer ea (z. B. D 321,
E 887), ea (E 808) oder eon (L762), nie anders, im alten
Atticismus nur e. en als 1. S. ist überhaupt nur als jüngere
Nebenform von dem aus ea contrahirten e nachweisbar. Und
diese nachweislich späte Form soll die Quelle sein, aus der
die viel ältere 3. S. ihr n "bezogen hat"? Diesem chrono-
logischen Irrthum gegenüber ist es nicht nöthig, auf die übri-
gen Momente der Unwahrscheinlichkeit in jener Behauptung
einzugehn, obgleich diese stark genug sind. Denn dass eine
erste Person mit einer dritten verwechselt worden sei, kommt
in einer Sprache, die sonst ihre Formen im Gebrauche so fein
scheidet, auch wohl nicht alle Tage vor. Was aber jenen
Einspruch gegen "festgewachsenes n ephelkystikon" betrifft,
so kommt dabei wesentlich in Betracht, was jetzt durch Hedde
Maassen's (Leipz. Stud. IV, 1 ff.) genauester epigraphischer For-

3. S. ην steht auf den ersten Blick vereinzelt da. Denn ab-
gesehen von jenem ν, das das ephelkystische genannt zu wer-
den, aber nur nach kurzen Vocalen einzutreten pflegt, ist der
Nasal der dritten Person Sing. fremd. Aus diesem Grunde
fasse ich das jüngere ἦν als Contraction aus dem daneben bei
Homer erhaltenen ἦεν auf (Verb. I2176 f.). ἦν verhält sich zu
ἦεν wie die Conjunction zu ἦε und zu ἠέ. Auch diese
Partikeln sind bei Homer sowohl in der offenen, wie in der
zusammengezogenen Form erhalten. Brugmann Morph. Unters.
I, 36 verwirft diese Erklärung mit dem Einwand, „er glaube
nicht an fest gewachsenes ν ἐφελκυστικόν“. Sollte sich diese
Differenz nicht aus dem Gebiet des Glaubens in das des Wis-
sens hinüber führen lassen? Ich glaube, ja. Der Ausweg,
den Brugmann gefunden zu haben glaubt, ist mit dem ein-
fachen und durchschlagenden Grunde widerlegbar, dass die
Form, der eine assimilirende Wirkung zugesprochen wird, zur
Zeit, da dies hätte geschehen müssen, gar nicht vorhanden
war. B. meint, die Form ἦν als 3. S. sei der 1. S. gleich-
gemacht. Aber ἦν kommt als 1. S. viel später vor, denn als
3. S. Die 1. S. lautet bekanntlich bei Homer ἔα (z. B. Δ 321,
E 887), ἦα (Ε 808) oder ἔον (Λ762), nie anders, im alten
Atticismus nur . ἦν als 1. S. ist überhaupt nur als jüngere
Nebenform von dem aus ἦα contrahirten nachweisbar. Und
diese nachweislich späte Form soll die Quelle sein, aus der
die viel ältere 3. S. ihr ν „bezogen hat"? Diesem chrono-
logischen Irrthum gegenüber ist es nicht nöthig, auf die übri-
gen Momente der Unwahrscheinlichkeit in jener Behauptung
einzugehn, obgleich diese stark genug sind. Denn dass eine
erste Person mit einer dritten verwechselt worden sei, kommt
in einer Sprache, die sonst ihre Formen im Gebrauche so fein
scheidet, auch wohl nicht alle Tage vor. Was aber jenen
Einspruch gegen „festgewachsenes ν ephelkystikon“ betrifft,
so kommt dabei wesentlich in Betracht, was jetzt durch Hedde
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[48/0056] 3. S. ην steht auf den ersten Blick vereinzelt da. Denn ab- gesehen von jenem ν, das das ephelkystische genannt zu wer- den, aber nur nach kurzen Vocalen einzutreten pflegt, ist der Nasal der dritten Person Sing. fremd. Aus diesem Grunde fasse ich das jüngere ἦν als Contraction aus dem daneben bei Homer erhaltenen ἦεν auf (Verb. I2176 f.). ἦν verhält sich zu ἦεν wie die Conjunction ἦ zu ἦε und ἤ zu ἠέ. Auch diese Partikeln sind bei Homer sowohl in der offenen, wie in der zusammengezogenen Form erhalten. Brugmann Morph. Unters. I, 36 verwirft diese Erklärung mit dem Einwand, „er glaube nicht an fest gewachsenes ν ἐφελκυστικόν“. Sollte sich diese Differenz nicht aus dem Gebiet des Glaubens in das des Wis- sens hinüber führen lassen? Ich glaube, ja. Der Ausweg, den Brugmann gefunden zu haben glaubt, ist mit dem ein- fachen und durchschlagenden Grunde widerlegbar, dass die Form, der eine assimilirende Wirkung zugesprochen wird, zur Zeit, da dies hätte geschehen müssen, gar nicht vorhanden war. B. meint, die Form ἦν als 3. S. sei der 1. S. gleich- gemacht. Aber ἦν kommt als 1. S. viel später vor, denn als 3. S. Die 1. S. lautet bekanntlich bei Homer ἔα (z. B. Δ 321, E 887), ἦα (Ε 808) oder ἔον (Λ762), nie anders, im alten Atticismus nur ἦ. ἦν als 1. S. ist überhaupt nur als jüngere Nebenform von dem aus ἦα contrahirten ἦ nachweisbar. Und diese nachweislich späte Form soll die Quelle sein, aus der die viel ältere 3. S. ihr ν „bezogen hat"? Diesem chrono- logischen Irrthum gegenüber ist es nicht nöthig, auf die übri- gen Momente der Unwahrscheinlichkeit in jener Behauptung einzugehn, obgleich diese stark genug sind. Denn dass eine erste Person mit einer dritten verwechselt worden sei, kommt in einer Sprache, die sonst ihre Formen im Gebrauche so fein scheidet, auch wohl nicht alle Tage vor. Was aber jenen Einspruch gegen „festgewachsenes ν ephelkystikon“ betrifft, so kommt dabei wesentlich in Betracht, was jetzt durch Hedde Maassen's (Leipz. Stud. IV, 1 ff.) genauester epigraphischer For-

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/56>, abgerufen am 03.05.2024.