ten Einräumungen Paul's gegenüber einen Fortschritt nicht zu erkennen.
Bei Delbrück wird ausserdem mehr als bei seinen Vor- gängern betont, dass die unbedingte Regelmässigkeit der Laut- bewegung sich hauptsächlich in solchen Sprachen nachweisen liesse, die (2 S. 113) "noch dem Naturzustande möglichst nahe stehen. Die Schriftsprachen zeigen stets eine Menge von Wor- ten, welche von anderswoher entlehnt sind, sei es aus frem- den Sprachen, sei es aus verwandten Dialekten, sei es endlich aus früheren, nur noch in Litteraturdenkmälern vorhandenen Perioden derselben Sprache, Entlehnungen, welche zum Theil so mit dem einheimischen Sprachmaterial verwachsen sind, dass sie von dem Sprechenden nicht mehr als fremd gefühlt werden". Ich möchte hier die Frage anfügen, wo uns denn solche dem Naturzustand näherliegende Sprachen wirklich vor- liegen. Es würde sich vielleicht lohnen, in solchen Sprachen oder Mundarten, welche von der Cultur möglichst unberührt sind, Untersuchungen in Bezug auf den Lautwandel vorzuneh- men. Jedenfalls sind die meisten indogermanischen Sprachen, auf welche die neuen Principien vorzugsweise angewandt sind und beständig angewandt werden, nicht von jener Art. Das Sanskrit, das Griechische, das Lateinische sind in eminentem Sinne Cultursprachen und es fragt sich doch wohl, ob wir aus der Fülle der hier vorliegenden Thatsachen jenen Natur- zustand überhaupt ungetrübt herauszuschälen vermögen. Hier liegt also ein Widerspruch vor. Man stellt ein Axiom an die Spitze, das wenigstens "vorzugsweise" in jenen mehr voraus- gesetzten als factisch nachgewiesenen Naturmundarten gelten soll und wendet es ohne alles Bedenken auf Sprachen an, die von ganz andrer Art sind.
Wenn wir also schon in Delbrück's Bemerkung eine Ein- schränkung des ursprünglich viel schroffer gefassten Axioms rinden, so kann man eine weitere Einschränkung darin er- kennen, dass örtliche und zeitliche Mischungen in Bezug auf
ten Einräumungen Paul's gegenüber einen Fortschritt nicht zu erkennen.
Bei Delbrück wird ausserdem mehr als bei seinen Vor- gängern betont, dass die unbedingte Regelmässigkeit der Laut- bewegung sich hauptsächlich in solchen Sprachen nachweisen liesse, die (2 S. 113) „noch dem Naturzustande möglichst nahe stehen. Die Schriftsprachen zeigen stets eine Menge von Wor- ten, welche von anderswoher entlehnt sind, sei es aus frem- den Sprachen, sei es aus verwandten Dialekten, sei es endlich aus früheren, nur noch in Litteraturdenkmälern vorhandenen Perioden derselben Sprache, Entlehnungen, welche zum Theil so mit dem einheimischen Sprachmaterial verwachsen sind, dass sie von dem Sprechenden nicht mehr als fremd gefühlt werden“. Ich möchte hier die Frage anfügen, wo uns denn solche dem Naturzustand näherliegende Sprachen wirklich vor- liegen. Es würde sich vielleicht lohnen, in solchen Sprachen oder Mundarten, welche von der Cultur möglichst unberührt sind, Untersuchungen in Bezug auf den Lautwandel vorzuneh- men. Jedenfalls sind die meisten indogermanischen Sprachen, auf welche die neuen Principien vorzugsweise angewandt sind und beständig angewandt werden, nicht von jener Art. Das Sanskrit, das Griechische, das Lateinische sind in eminentem Sinne Cultursprachen und es fragt sich doch wohl, ob wir aus der Fülle der hier vorliegenden Thatsachen jenen Natur- zustand überhaupt ungetrübt herauszuschälen vermögen. Hier liegt also ein Widerspruch vor. Man stellt ein Axiom an die Spitze, das wenigstens „vorzugsweise“ in jenen mehr voraus- gesetzten als factisch nachgewiesenen Naturmundarten gelten soll und wendet es ohne alles Bedenken auf Sprachen an, die von ganz andrer Art sind.
Wenn wir also schon in Delbrück's Bemerkung eine Ein- schränkung des ursprünglich viel schroffer gefassten Axioms rinden, so kann man eine weitere Einschränkung darin er- kennen, dass örtliche und zeitliche Mischungen in Bezug auf
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ten Einräumungen Paul's gegenüber einen Fortschritt nicht
zu erkennen.
Bei Delbrück wird ausserdem mehr als bei seinen Vor-
gängern betont, dass die unbedingte Regelmässigkeit der Laut-
bewegung sich hauptsächlich in solchen Sprachen nachweisen
liesse, die (2 S. 113) „noch dem Naturzustande möglichst nahe
stehen. Die Schriftsprachen zeigen stets eine Menge von Wor-
ten, welche von anderswoher entlehnt sind, sei es aus frem-
den Sprachen, sei es aus verwandten Dialekten, sei es endlich
aus früheren, nur noch in Litteraturdenkmälern vorhandenen
Perioden derselben Sprache, Entlehnungen, welche zum Theil
so mit dem einheimischen Sprachmaterial verwachsen sind,
dass sie von dem Sprechenden nicht mehr als fremd gefühlt
werden“. Ich möchte hier die Frage anfügen, wo uns denn
solche dem Naturzustand näherliegende Sprachen wirklich vor-
liegen. Es würde sich vielleicht lohnen, in solchen Sprachen
oder Mundarten, welche von der Cultur möglichst unberührt
sind, Untersuchungen in Bezug auf den Lautwandel vorzuneh-
men. Jedenfalls sind die meisten indogermanischen Sprachen,
auf welche die neuen Principien vorzugsweise angewandt sind
und beständig angewandt werden, nicht von jener Art. Das
Sanskrit, das Griechische, das Lateinische sind in eminentem
Sinne Cultursprachen und es fragt sich doch wohl, ob wir
aus der Fülle der hier vorliegenden Thatsachen jenen Natur-
zustand überhaupt ungetrübt herauszuschälen vermögen. Hier
liegt also ein Widerspruch vor. Man stellt ein Axiom an die
Spitze, das wenigstens „vorzugsweise“ in jenen mehr voraus-
gesetzten als factisch nachgewiesenen Naturmundarten gelten
soll und wendet es ohne alles Bedenken auf Sprachen an,
die von ganz andrer Art sind.
Wenn wir also schon in Delbrück's Bemerkung eine Ein-
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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/21>, abgerufen am 16.07.2024.
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