Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

gebiet ausnahmslos gilt, oder aus Analogie hervorging". Die
Tragweite dieser Behauptung ist augenscheinlich eine sehr
grosse. Die Behauptung erstreckt sich auf alle Sprachen und
gibt sich als eine Wahrheit, welche etwa nach der Art mathe-
matischer Grundsätze weder bewiesen wird, noch auch des Be-
weises bedarf, so dass wir ein Recht hatten sie als ein Axiom
zu bezeichnen, und dass die Annahme jenes Grundsatzes von
den italienischen Forschern, denen wohl niemand Laxheit vor-
werfen kann, nicht unpassend 'nuova fede' benannt ward.

Wo es sich um sehr weit reichende allgemeine Behaup-
tungen handelt, die plötzlich in einer überraschenden Weise
unter mannichfaltiger Zustimmung aufgestellt werden, wird
man, denke ich, nicht bloss auf diese Zustimmungen, sondern
auch gern auf die Stimmen solcher hören, welche unbefangene
Kritik daran üben. Es lohnt sich das, glaube ich, auch hier.
Wir wollen uns daher zunächst die Urtheile derer vorführen,
welche, dieser Richtung von Haus aus fernstehend, Bedenken
dagegen geäussert haben, und dann zusehen, wie sich das Ur-
theil derer im weitern Verlaufe der wissenschaftlichen Unter-
suchung gestellt hat, die im wesentlichen jenem Axiom zuge-
neigt sind. Eine scharfe Entgegnung fand die neue Richtung
in den Gött. Gel. Anz. vom Jahre 1879 (S. 641 ff.). Diese sehr
ausführliche Kritik von Bezzenberger stösst allerdings theil-
weise durch einen sehr verletzenden, aus persönlicher Gereizt-
heit hervorgegangenen Ton ab. Aber die allgemeineren Er-
wägungen, in welchen, z. B. S. 650 ff., der Kritiker zum Theil
die gemeinsamen Erwägungen mehrerer Göttinger Sprach-
forscher wiederzugeben scheint, sind, glaube ich, beachtens-
werth. Es wird dort betont, dass in der Geschichte der Spra-
chen "ein Lautwandel sich zunächst immer nur bei einem [?]
oder mehreren Individuen aus Gründen, die sehr verschieden
sein können, entwickelt" *) Nach diesen richteten sich meh-

*) Ein belehrendes Beispiel von einer allmählich fortschreitenden
Lautveränderung, bei der von Consequenz keine Rede sein kann, ist die

gebiet ausnahmslos gilt, oder aus Analogie hervorging“. Die
Tragweite dieser Behauptung ist augenscheinlich eine sehr
grosse. Die Behauptung erstreckt sich auf alle Sprachen und
gibt sich als eine Wahrheit, welche etwa nach der Art mathe-
matischer Grundsätze weder bewiesen wird, noch auch des Be-
weises bedarf, so dass wir ein Recht hatten sie als ein Axiom
zu bezeichnen, und dass die Annahme jenes Grundsatzes von
den italienischen Forschern, denen wohl niemand Laxheit vor-
werfen kann, nicht unpassend ‘nuova fede’ benannt ward.

Wo es sich um sehr weit reichende allgemeine Behaup-
tungen handelt, die plötzlich in einer überraschenden Weise
unter mannichfaltiger Zustimmung aufgestellt werden, wird
man, denke ich, nicht bloss auf diese Zustimmungen, sondern
auch gern auf die Stimmen solcher hören, welche unbefangene
Kritik daran üben. Es lohnt sich das, glaube ich, auch hier.
Wir wollen uns daher zunächst die Urtheile derer vorführen,
welche, dieser Richtung von Haus aus fernstehend, Bedenken
dagegen geäussert haben, und dann zusehen, wie sich das Ur-
theil derer im weitern Verlaufe der wissenschaftlichen Unter-
suchung gestellt hat, die im wesentlichen jenem Axiom zuge-
neigt sind. Eine scharfe Entgegnung fand die neue Richtung
in den Gött. Gel. Anz. vom Jahre 1879 (S. 641 ff.). Diese sehr
ausführliche Kritik von Bezzenberger stösst allerdings theil-
weise durch einen sehr verletzenden, aus persönlicher Gereizt-
heit hervorgegangenen Ton ab. Aber die allgemeineren Er-
wägungen, in welchen, z. B. S. 650 ff., der Kritiker zum Theil
die gemeinsamen Erwägungen mehrerer Göttinger Sprach-
forscher wiederzugeben scheint, sind, glaube ich, beachtens-
werth. Es wird dort betont, dass in der Geschichte der Spra-
chen „ein Lautwandel sich zunächst immer nur bei einem [?]
oder mehreren Individuen aus Gründen, die sehr verschieden
sein können, entwickelt" *) Nach diesen richteten sich meh-

*) Ein belehrendes Beispiel von einer allmählich fortschreitenden
Lautveränderung, bei der von Consequenz keine Rede sein kann, ist die
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0017" n="9"/>
gebiet ausnahmslos gilt, oder aus Analogie hervorging&#x201C;. Die<lb/>
Tragweite dieser Behauptung ist augenscheinlich eine sehr<lb/>
grosse. Die Behauptung erstreckt sich auf <hi rendition="#g">alle</hi> Sprachen und<lb/>
gibt sich als eine Wahrheit, welche etwa nach der Art mathe-<lb/>
matischer Grundsätze weder bewiesen wird, noch auch des Be-<lb/>
weises bedarf, so dass wir ein Recht hatten sie als ein <hi rendition="#g">Axiom</hi><lb/>
zu bezeichnen, und dass die Annahme jenes Grundsatzes von<lb/>
den italienischen Forschern, denen wohl niemand Laxheit vor-<lb/>
werfen kann, nicht unpassend <hi rendition="#i">&#x2018;nuova fede&#x2019; </hi>benannt ward.</p><lb/>
        <p>Wo es sich um sehr weit reichende allgemeine Behaup-<lb/>
tungen handelt, die plötzlich in einer überraschenden Weise<lb/>
unter mannichfaltiger Zustimmung aufgestellt werden, wird<lb/>
man, denke ich, nicht bloss auf diese Zustimmungen, sondern<lb/>
auch gern auf die Stimmen solcher hören, welche unbefangene<lb/>
Kritik daran üben. Es lohnt sich das, glaube ich, auch hier.<lb/>
Wir wollen uns daher zunächst die Urtheile derer vorführen,<lb/>
welche, dieser Richtung von Haus aus fernstehend, Bedenken<lb/>
dagegen geäussert haben, und dann zusehen, wie sich das Ur-<lb/>
theil derer im weitern Verlaufe der wissenschaftlichen Unter-<lb/>
suchung gestellt hat, die im wesentlichen jenem Axiom zuge-<lb/>
neigt sind. Eine scharfe Entgegnung fand die neue Richtung<lb/>
in den Gött. Gel. Anz. vom Jahre 1879 (S. 641 ff.). Diese sehr<lb/>
ausführliche Kritik von Bezzenberger stösst allerdings theil-<lb/>
weise durch einen sehr verletzenden, aus persönlicher Gereizt-<lb/>
heit hervorgegangenen Ton ab. Aber die allgemeineren Er-<lb/>
wägungen, in welchen, z. B. S. 650 ff., der Kritiker zum Theil<lb/>
die gemeinsamen Erwägungen mehrerer Göttinger Sprach-<lb/>
forscher wiederzugeben scheint, sind, glaube ich, beachtens-<lb/>
werth. Es wird dort betont, dass in der Geschichte der Spra-<lb/>
chen &#x201E;ein Lautwandel sich zunächst immer nur bei einem [?]<lb/>
oder mehreren Individuen aus Gründen, die sehr verschieden<lb/>
sein können, entwickelt" <note xml:id="ftn1a" next="#ftn1b" place="foot" n="*)">Ein belehrendes Beispiel von einer allmählich fortschreitenden<lb/>
Lautveränderung, bei der von Consequenz keine Rede sein kann, ist die<lb/></note> Nach diesen richteten sich meh-<lb/><lb/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[9/0017] gebiet ausnahmslos gilt, oder aus Analogie hervorging“. Die Tragweite dieser Behauptung ist augenscheinlich eine sehr grosse. Die Behauptung erstreckt sich auf alle Sprachen und gibt sich als eine Wahrheit, welche etwa nach der Art mathe- matischer Grundsätze weder bewiesen wird, noch auch des Be- weises bedarf, so dass wir ein Recht hatten sie als ein Axiom zu bezeichnen, und dass die Annahme jenes Grundsatzes von den italienischen Forschern, denen wohl niemand Laxheit vor- werfen kann, nicht unpassend ‘nuova fede’ benannt ward. Wo es sich um sehr weit reichende allgemeine Behaup- tungen handelt, die plötzlich in einer überraschenden Weise unter mannichfaltiger Zustimmung aufgestellt werden, wird man, denke ich, nicht bloss auf diese Zustimmungen, sondern auch gern auf die Stimmen solcher hören, welche unbefangene Kritik daran üben. Es lohnt sich das, glaube ich, auch hier. Wir wollen uns daher zunächst die Urtheile derer vorführen, welche, dieser Richtung von Haus aus fernstehend, Bedenken dagegen geäussert haben, und dann zusehen, wie sich das Ur- theil derer im weitern Verlaufe der wissenschaftlichen Unter- suchung gestellt hat, die im wesentlichen jenem Axiom zuge- neigt sind. Eine scharfe Entgegnung fand die neue Richtung in den Gött. Gel. Anz. vom Jahre 1879 (S. 641 ff.). Diese sehr ausführliche Kritik von Bezzenberger stösst allerdings theil- weise durch einen sehr verletzenden, aus persönlicher Gereizt- heit hervorgegangenen Ton ab. Aber die allgemeineren Er- wägungen, in welchen, z. B. S. 650 ff., der Kritiker zum Theil die gemeinsamen Erwägungen mehrerer Göttinger Sprach- forscher wiederzugeben scheint, sind, glaube ich, beachtens- werth. Es wird dort betont, dass in der Geschichte der Spra- chen „ein Lautwandel sich zunächst immer nur bei einem [?] oder mehreren Individuen aus Gründen, die sehr verschieden sein können, entwickelt" *) Nach diesen richteten sich meh- *) Ein belehrendes Beispiel von einer allmählich fortschreitenden Lautveränderung, bei der von Consequenz keine Rede sein kann, ist die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/17
Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/17>, abgerufen am 28.03.2024.