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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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sehr zweifelhaft, ob wir auf dem Wege einer übertriebenen
Skepsis einerseits und eines mir noch viel weniger begreif-
lichen Vertrauens zu verschiedenen neu aufgestellten Satzungen
andrerseits festere Grundlagen gewinnen werden.

Man hat behauptet, jeder Versuch einer Analyse der ur-
sprachlichen Formen scheitere schon daran, dass uns von den
Lautgesetzen der Ursprache nichts bekannt sei. Ich erinnere
mich, besonders bei französischen Gelehrten diesem Einwand
begegnet zu sein. Den Mangel an Lautgesetzen für die Periode,
in der die Formen der Ursprache sich erst bildeten, muss man
natürlich zugeben, und es wäre besser gewesen, wenn man
von Anfang an sich dieses Unterschiedes zwischen jener frühe-
sten Zeit und den späteren bewusst gewesen wäre und ihn
geltend gemacht hätte. Der Grad der Wahrscheinlichkeit für
die Behauptung, dass sanskr. bharanti, dor. pheronti, ion. phe-
rousi
, lat. ferunt in der einen vorangestellten Form ihre Grund-
form finden, dass griech. teino und got. thanja von Haus aus
gleich sind, ist allerdings ein viel grösserer als der, dass die
Personalendung si oder s von sanskr. bharasi, griech. FM: griechischphereis
aus dem Pronominalstamme tva hervorgegangen ist. Aber steht
es besser mit zahlreichen Analogiebildungen, die man ange-
nommen hat ? Wir sahen oben, dass vielen Behauptungen der
Art manches entgegensteht. Lautgesetze aber gelten nach all-
gemeiner Annahme für örtlich und zeitlich begrenzt. Die That-
sache also, dass wir einen bestimmten Lautübergang für eine
historisch bezeugte Periode der Sprache nicht nachzuweisen
vermögen, schliesst keineswegs die Möglichkeit aus, dass ein
solcher Uebergang in einer noch früheren Zeit dennoch statt-
fand. Der Mangel an Kenntniss ursprachlicher Lautgesetze
macht natürlich dies ganze Forschungsgebiet zu einem viel
schlüpfrigeren, als dasjenige der späteren Sprachperioden. Um
zur Wahrscheinlichkeit durchzudringen, müssen hier andre Er-
kenntnissmittel besonders schlagender Art vorliegen. Wenn
dabei die behaupteten Lautveränderungen auf so kleine und

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sehr zweifelhaft, ob wir auf dem Wege einer übertriebenen
Skepsis einerseits und eines mir noch viel weniger begreif-
lichen Vertrauens zu verschiedenen neu aufgestellten Satzungen
andrerseits festere Grundlagen gewinnen werden.

Man hat behauptet, jeder Versuch einer Analyse der ur-
sprachlichen Formen scheitere schon daran, dass uns von den
Lautgesetzen der Ursprache nichts bekannt sei. Ich erinnere
mich, besonders bei französischen Gelehrten diesem Einwand
begegnet zu sein. Den Mangel an Lautgesetzen für die Periode,
in der die Formen der Ursprache sich erst bildeten, muss man
natürlich zugeben, und es wäre besser gewesen, wenn man
von Anfang an sich dieses Unterschiedes zwischen jener frühe-
sten Zeit und den späteren bewusst gewesen wäre und ihn
geltend gemacht hätte. Der Grad der Wahrscheinlichkeit für
die Behauptung, dass sanskr. bháranti, dor. φέροντι, ion. φέ-
ρουσι
, lat. ferunt in der einen vorangestellten Form ihre Grund-
form finden, dass griech. τείνω und got. thanja von Haus aus
gleich sind, ist allerdings ein viel grösserer als der, dass die
Personalendung si oder s von sanskr. bhárasi, griech. FM: griechischφέρεις
aus dem Pronominalstamme tva hervorgegangen ist. Aber steht
es besser mit zahlreichen Analogiebildungen, die man ange-
nommen hat ? Wir sahen oben, dass vielen Behauptungen der
Art manches entgegensteht. Lautgesetze aber gelten nach all-
gemeiner Annahme für örtlich und zeitlich begrenzt. Die That-
sache also, dass wir einen bestimmten Lautübergang für eine
historisch bezeugte Periode der Sprache nicht nachzuweisen
vermögen, schliesst keineswegs die Möglichkeit aus, dass ein
solcher Uebergang in einer noch früheren Zeit dennoch statt-
fand. Der Mangel an Kenntniss ursprachlicher Lautgesetze
macht natürlich dies ganze Forschungsgebiet zu einem viel
schlüpfrigeren, als dasjenige der späteren Sprachperioden. Um
zur Wahrscheinlichkeit durchzudringen, müssen hier andre Er-
kenntnissmittel besonders schlagender Art vorliegen. Wenn
dabei die behaupteten Lautveränderungen auf so kleine und

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[147/0155] sehr zweifelhaft, ob wir auf dem Wege einer übertriebenen Skepsis einerseits und eines mir noch viel weniger begreif- lichen Vertrauens zu verschiedenen neu aufgestellten Satzungen andrerseits festere Grundlagen gewinnen werden. Man hat behauptet, jeder Versuch einer Analyse der ur- sprachlichen Formen scheitere schon daran, dass uns von den Lautgesetzen der Ursprache nichts bekannt sei. Ich erinnere mich, besonders bei französischen Gelehrten diesem Einwand begegnet zu sein. Den Mangel an Lautgesetzen für die Periode, in der die Formen der Ursprache sich erst bildeten, muss man natürlich zugeben, und es wäre besser gewesen, wenn man von Anfang an sich dieses Unterschiedes zwischen jener frühe- sten Zeit und den späteren bewusst gewesen wäre und ihn geltend gemacht hätte. Der Grad der Wahrscheinlichkeit für die Behauptung, dass sanskr. bháranti, dor. φέροντι, ion. φέ- ρουσι, lat. ferunt in der einen vorangestellten Form ihre Grund- form finden, dass griech. τείνω und got. thanja von Haus aus gleich sind, ist allerdings ein viel grösserer als der, dass die Personalendung si oder s von sanskr. bhárasi, griech. φέρεις aus dem Pronominalstamme tva hervorgegangen ist. Aber steht es besser mit zahlreichen Analogiebildungen, die man ange- nommen hat ? Wir sahen oben, dass vielen Behauptungen der Art manches entgegensteht. Lautgesetze aber gelten nach all- gemeiner Annahme für örtlich und zeitlich begrenzt. Die That- sache also, dass wir einen bestimmten Lautübergang für eine historisch bezeugte Periode der Sprache nicht nachzuweisen vermögen, schliesst keineswegs die Möglichkeit aus, dass ein solcher Uebergang in einer noch früheren Zeit dennoch statt- fand. Der Mangel an Kenntniss ursprachlicher Lautgesetze macht natürlich dies ganze Forschungsgebiet zu einem viel schlüpfrigeren, als dasjenige der späteren Sprachperioden. Um zur Wahrscheinlichkeit durchzudringen, müssen hier andre Er- kenntnissmittel besonders schlagender Art vorliegen. Wenn dabei die behaupteten Lautveränderungen auf so kleine und 10*

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/155>, abgerufen am 24.11.2024.