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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Das alte und neue Griechenland.
über die besonderen Interessen der Alterthumswissenschaft
weit hinaus, sie haben ein allgemein geschichtliches Interesse.
Namentlich wird man, so wie man in die Atmosphäre jener
Länder eintritt, durch die eignen Eindrücke lebhaft angeregt,
sich die Einflüsse der klimatischen Verhältnisse klar zu machen.
Wir Nordländer pflegen für den Süden zu schwärmen und
schon bei den Namen Neapel und Athen durchzuckt uns die Vor¬
stellung einer glücklicheren Existenz. Und wer wird nicht auch,
wenn er die verschiedenen Zonen vergleichen lernt, das Glück
des Südens d. h. namentlich der ins Mittelmeer gestreckten
Halbinselländer empfinden! Wer fühlt nicht, wie die Welt
des Lichts und der Wärme die normale Entwickelung der
Menschen an Körper und Geist wohlthuend erleichtert, wie der
Mensch des Südens so vieler Mühseligkeiten enthoben ist, die
den Nordländer niederdrücken und abstumpfen! Darum ist
noch immer im Süden eine gewisse Intelligenz und Gewandt¬
heit des Geistes verbreiteter, als im Norden, und während bei
uns schon ein gewisser Grad von Wohlstand erforderlich ist,
um den Druck des Klimas nicht zu empfinden, ist jenseit
der Alpen sorgenfreie Lebensfreude und frohes Selbstgefühl
ein allgemeines Gut. Darum ist auch die Kluft zwischen den
Ständen weniger groß und eine gewisse Gleichartigkeit der
Bildung leichter zu erreichen. Und dann, weil die Natur
nicht als feindliche Macht dem Menschen gegenübertritt, lebt
er alle Jahreszeiten hindurch harmloser und vertrauter mit
ihr, und das maßvoll Harmonische, das in ihrem Leben waltet,
in ihren Formen sich ausspricht, theilt sich unwillkürlich auch
seinem Leben mit. Wer hat nicht im Süden den beruhigen¬
den Eindruck empfunden, welchen das friedliche Gleichmaß
einer langen Reihe milder Tage und Nächte, der erfreuende
Glanz eines heitern Himmels, die durchsichtige Klarheit einer
reinen Luft auf das Gemüth ausübt! In geheimnißvoller,
aber unverkennbarer Weise hat dies auch auf das Kunstleben
der Alten eingewirkt, auf die klare und maßvolle Ruhe, welche
in ihrer Bau- und Bildkunst waltet, sowie auf den Rhythmus
ihrer Worte und Gedanken. Goethe wie Platen zeugen für

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Das alte und neue Griechenland.
über die beſonderen Intereſſen der Alterthumswiſſenſchaft
weit hinaus, ſie haben ein allgemein geſchichtliches Intereſſe.
Namentlich wird man, ſo wie man in die Atmoſphäre jener
Länder eintritt, durch die eignen Eindrücke lebhaft angeregt,
ſich die Einflüſſe der klimatiſchen Verhältniſſe klar zu machen.
Wir Nordländer pflegen für den Süden zu ſchwärmen und
ſchon bei den Namen Neapel und Athen durchzuckt uns die Vor¬
ſtellung einer glücklicheren Exiſtenz. Und wer wird nicht auch,
wenn er die verſchiedenen Zonen vergleichen lernt, das Glück
des Südens d. h. namentlich der ins Mittelmeer geſtreckten
Halbinſelländer empfinden! Wer fühlt nicht, wie die Welt
des Lichts und der Wärme die normale Entwickelung der
Menſchen an Körper und Geiſt wohlthuend erleichtert, wie der
Menſch des Südens ſo vieler Mühſeligkeiten enthoben iſt, die
den Nordländer niederdrücken und abſtumpfen! Darum iſt
noch immer im Süden eine gewiſſe Intelligenz und Gewandt¬
heit des Geiſtes verbreiteter, als im Norden, und während bei
uns ſchon ein gewiſſer Grad von Wohlſtand erforderlich iſt,
um den Druck des Klimas nicht zu empfinden, iſt jenſeit
der Alpen ſorgenfreie Lebensfreude und frohes Selbſtgefühl
ein allgemeines Gut. Darum iſt auch die Kluft zwiſchen den
Ständen weniger groß und eine gewiſſe Gleichartigkeit der
Bildung leichter zu erreichen. Und dann, weil die Natur
nicht als feindliche Macht dem Menſchen gegenübertritt, lebt
er alle Jahreszeiten hindurch harmloſer und vertrauter mit
ihr, und das maßvoll Harmoniſche, das in ihrem Leben waltet,
in ihren Formen ſich ausſpricht, theilt ſich unwillkürlich auch
ſeinem Leben mit. Wer hat nicht im Süden den beruhigen¬
den Eindruck empfunden, welchen das friedliche Gleichmaß
einer langen Reihe milder Tage und Nächte, der erfreuende
Glanz eines heitern Himmels, die durchſichtige Klarheit einer
reinen Luft auf das Gemüth ausübt! In geheimnißvoller,
aber unverkennbarer Weiſe hat dies auch auf das Kunſtleben
der Alten eingewirkt, auf die klare und maßvolle Ruhe, welche
in ihrer Bau- und Bildkunſt waltet, ſowie auf den Rhythmus
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[35/0051] Das alte und neue Griechenland. über die beſonderen Intereſſen der Alterthumswiſſenſchaft weit hinaus, ſie haben ein allgemein geſchichtliches Intereſſe. Namentlich wird man, ſo wie man in die Atmoſphäre jener Länder eintritt, durch die eignen Eindrücke lebhaft angeregt, ſich die Einflüſſe der klimatiſchen Verhältniſſe klar zu machen. Wir Nordländer pflegen für den Süden zu ſchwärmen und ſchon bei den Namen Neapel und Athen durchzuckt uns die Vor¬ ſtellung einer glücklicheren Exiſtenz. Und wer wird nicht auch, wenn er die verſchiedenen Zonen vergleichen lernt, das Glück des Südens d. h. namentlich der ins Mittelmeer geſtreckten Halbinſelländer empfinden! Wer fühlt nicht, wie die Welt des Lichts und der Wärme die normale Entwickelung der Menſchen an Körper und Geiſt wohlthuend erleichtert, wie der Menſch des Südens ſo vieler Mühſeligkeiten enthoben iſt, die den Nordländer niederdrücken und abſtumpfen! Darum iſt noch immer im Süden eine gewiſſe Intelligenz und Gewandt¬ heit des Geiſtes verbreiteter, als im Norden, und während bei uns ſchon ein gewiſſer Grad von Wohlſtand erforderlich iſt, um den Druck des Klimas nicht zu empfinden, iſt jenſeit der Alpen ſorgenfreie Lebensfreude und frohes Selbſtgefühl ein allgemeines Gut. Darum iſt auch die Kluft zwiſchen den Ständen weniger groß und eine gewiſſe Gleichartigkeit der Bildung leichter zu erreichen. Und dann, weil die Natur nicht als feindliche Macht dem Menſchen gegenübertritt, lebt er alle Jahreszeiten hindurch harmloſer und vertrauter mit ihr, und das maßvoll Harmoniſche, das in ihrem Leben waltet, in ihren Formen ſich ausſpricht, theilt ſich unwillkürlich auch ſeinem Leben mit. Wer hat nicht im Süden den beruhigen¬ den Eindruck empfunden, welchen das friedliche Gleichmaß einer langen Reihe milder Tage und Nächte, der erfreuende Glanz eines heitern Himmels, die durchſichtige Klarheit einer reinen Luft auf das Gemüth ausübt! In geheimnißvoller, aber unverkennbarer Weiſe hat dies auch auf das Kunſtleben der Alten eingewirkt, auf die klare und maßvolle Ruhe, welche in ihrer Bau- und Bildkunſt waltet, ſowie auf den Rhythmus ihrer Worte und Gedanken. Goethe wie Platen zeugen für 3 *

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/51>, abgerufen am 25.11.2024.