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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Das alte und neue Griechenland.
dige Kenntniß der alten Welt oft viel bedeutsamer als die
bewundertsten Prachtstücke europäischer Museen. Ich meine
namentlich die Fülle, von Reliefbildern, Gelegenheitsarbeiten
attischer Handwerker, die gewohnheitsmäßig nach herkömm¬
licher Weise verfertigt wurden. In ihnen spiegelt sich am
Treusten die Sitte des Landes; sie zeigen uns den Menschen
am Anschaulichsten im täglichen Verkehre mit seinen Göttern,
in den Nöthen und Freuden seines Lebens. Dahin gehören
die zahllosen Weihetafeln, bei den verschiedensten Gelegenheiten
unter priesterlicher Autorität den Göttern dargebracht, und die
vielen Denkmäler aus den öffentlichen Gymnasien; darunter
ganze Reihen von Standbildern, aus denen man den Athenern
eine neue Hermenstraße aufbauen könnte, mit Porträtköpfen
und Unterschriften, welche uns eine große Zahl hervorragen¬
der Persönlichkeiten der Stadt kennen lehren, wie denn über¬
haupt an Schriftsteinen eine solche Fülle, namentlich in Athen,
zu Tage gekommen ist, daß der Schriftgebrauch in allen Formen
aufs Genaueste zu verfolgen ist, von der sorgfältigsten Ein¬
meißelung bis zum flüchtigen Schreiben mit einer dinten¬
artigen Farbe. Dahin gehören ferner die lebensvollen Dar¬
stellungen aus den städtischen Palästern, die Gruppen der in
voller Uebung begriffenen Jünglinge zu Fuß und zu Roß,
die vielen und höchst mannigfaltigen Denkmäler von Siegern
in den öffentlichen Wettkämpfen, die Postamente geweihter
Dreifüße; dann die vielen auf den Cultus bezüglichen Dar¬
stellungen, namentlich die zahlreichen Nymphenreliefs, die uns
recht anschaulich machen, wie volksthümlich gerade dieser Cultus
in Attica war. Endlich die unabsehliche Fülle von Grabreliefs,
welche in den Museen auch nicht in den vornehmeren Kreis
der Antiken zugelassen zu werden pflegen, und doch zeigen sie
uns gerade die Helenen von einer Seite, von welcher wir sie
am Wenigsten zu kennen und anzuerkennen pflegen, nämlich
von Seiten ihrer tiefen Gemüthlichkeit und ihres zarten Sinns
für Familienglück und eheliche Treue. Denn diejenigen, welche
so schlicht, so warm und wahr empfundene Familienbilder
darzustellen wußten und dargestellt zu sehen liebten, die hatten

Das alte und neue Griechenland.
dige Kenntniß der alten Welt oft viel bedeutſamer als die
bewundertſten Prachtſtücke europäiſcher Muſeen. Ich meine
namentlich die Fülle, von Reliefbildern, Gelegenheitsarbeiten
attiſcher Handwerker, die gewohnheitsmäßig nach herkömm¬
licher Weiſe verfertigt wurden. In ihnen ſpiegelt ſich am
Treuſten die Sitte des Landes; ſie zeigen uns den Menſchen
am Anſchaulichſten im täglichen Verkehre mit ſeinen Göttern,
in den Nöthen und Freuden ſeines Lebens. Dahin gehören
die zahlloſen Weihetafeln, bei den verſchiedenſten Gelegenheiten
unter prieſterlicher Autorität den Göttern dargebracht, und die
vielen Denkmäler aus den öffentlichen Gymnaſien; darunter
ganze Reihen von Standbildern, aus denen man den Athenern
eine neue Hermenſtraße aufbauen könnte, mit Porträtköpfen
und Unterſchriften, welche uns eine große Zahl hervorragen¬
der Perſönlichkeiten der Stadt kennen lehren, wie denn über¬
haupt an Schriftſteinen eine ſolche Fülle, namentlich in Athen,
zu Tage gekommen iſt, daß der Schriftgebrauch in allen Formen
aufs Genaueſte zu verfolgen iſt, von der ſorgfältigſten Ein¬
meißelung bis zum flüchtigen Schreiben mit einer dinten¬
artigen Farbe. Dahin gehören ferner die lebensvollen Dar¬
ſtellungen aus den ſtädtiſchen Paläſtern, die Gruppen der in
voller Uebung begriffenen Jünglinge zu Fuß und zu Roß,
die vielen und höchſt mannigfaltigen Denkmäler von Siegern
in den öffentlichen Wettkämpfen, die Poſtamente geweihter
Dreifüße; dann die vielen auf den Cultus bezüglichen Dar¬
ſtellungen, namentlich die zahlreichen Nymphenreliefs, die uns
recht anſchaulich machen, wie volksthümlich gerade dieſer Cultus
in Attica war. Endlich die unabſehliche Fülle von Grabreliefs,
welche in den Muſeen auch nicht in den vornehmeren Kreis
der Antiken zugelaſſen zu werden pflegen, und doch zeigen ſie
uns gerade die Helenen von einer Seite, von welcher wir ſie
am Wenigſten zu kennen und anzuerkennen pflegen, nämlich
von Seiten ihrer tiefen Gemüthlichkeit und ihres zarten Sinns
für Familienglück und eheliche Treue. Denn diejenigen, welche
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[29/0045] Das alte und neue Griechenland. dige Kenntniß der alten Welt oft viel bedeutſamer als die bewundertſten Prachtſtücke europäiſcher Muſeen. Ich meine namentlich die Fülle, von Reliefbildern, Gelegenheitsarbeiten attiſcher Handwerker, die gewohnheitsmäßig nach herkömm¬ licher Weiſe verfertigt wurden. In ihnen ſpiegelt ſich am Treuſten die Sitte des Landes; ſie zeigen uns den Menſchen am Anſchaulichſten im täglichen Verkehre mit ſeinen Göttern, in den Nöthen und Freuden ſeines Lebens. Dahin gehören die zahlloſen Weihetafeln, bei den verſchiedenſten Gelegenheiten unter prieſterlicher Autorität den Göttern dargebracht, und die vielen Denkmäler aus den öffentlichen Gymnaſien; darunter ganze Reihen von Standbildern, aus denen man den Athenern eine neue Hermenſtraße aufbauen könnte, mit Porträtköpfen und Unterſchriften, welche uns eine große Zahl hervorragen¬ der Perſönlichkeiten der Stadt kennen lehren, wie denn über¬ haupt an Schriftſteinen eine ſolche Fülle, namentlich in Athen, zu Tage gekommen iſt, daß der Schriftgebrauch in allen Formen aufs Genaueſte zu verfolgen iſt, von der ſorgfältigſten Ein¬ meißelung bis zum flüchtigen Schreiben mit einer dinten¬ artigen Farbe. Dahin gehören ferner die lebensvollen Dar¬ ſtellungen aus den ſtädtiſchen Paläſtern, die Gruppen der in voller Uebung begriffenen Jünglinge zu Fuß und zu Roß, die vielen und höchſt mannigfaltigen Denkmäler von Siegern in den öffentlichen Wettkämpfen, die Poſtamente geweihter Dreifüße; dann die vielen auf den Cultus bezüglichen Dar¬ ſtellungen, namentlich die zahlreichen Nymphenreliefs, die uns recht anſchaulich machen, wie volksthümlich gerade dieſer Cultus in Attica war. Endlich die unabſehliche Fülle von Grabreliefs, welche in den Muſeen auch nicht in den vornehmeren Kreis der Antiken zugelaſſen zu werden pflegen, und doch zeigen ſie uns gerade die Helenen von einer Seite, von welcher wir ſie am Wenigſten zu kennen und anzuerkennen pflegen, nämlich von Seiten ihrer tiefen Gemüthlichkeit und ihres zarten Sinns für Familienglück und eheliche Treue. Denn diejenigen, welche ſo ſchlicht, ſo warm und wahr empfundene Familienbilder darzuſtellen wußten und dargeſtellt zu ſehen liebten, die hatten

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/45>, abgerufen am 24.11.2024.