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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Große und kleine Städte.
sind später die Städte gerade die Plätze gewesen, wo der
schwere Bann des Feudalismus gebrochen, wo die bürgerliche
Freiheit wie die der Gewissen errungen und dem deutschen
Volksgeiste seine Unabhängigkeit wieder gegeben ist.

In Deutschland wie in Griechenland sind es die Städte
gewesen, in welchen die edelsten Güter des Volks erworben
worden sind. Vor dem einseitigen Stadtleben aber, an dem
die Griechen zu Grunde gegangen sind, behütet uns die Liebe
zu Wald und Flur, welche wir von unsern Altvordern ererbt
haben. In Griechenland haben sich die Bürgerschaften einzelner
Städte mit einer Staunen erregenden Energie zu Mächten
der Geschichte, ja der Weltgeschichte erhoben, aber es fehlte
die sichere Grundlage; je übermäßiger die Anstrengung, um so
vollständiger die Erschlaffung, um so aufzehrender die fieber¬
hafte Aufregung, welche den Mangel an Kraft ersetzen sollte.
Athen behielt immer einen familienhaften Charakter und ist
nie zur Großstadt ausgewachsen.

In Italien wiederum wurde alles geschichtliche Leben,
das in Gauen und Städten so fröhlich blühte, durch die auf¬
saugende Macht einer Stadt getödtet. Es entstand eine öde
Monotonie, wie sie bei uns unmöglich ist. Denn der deutsche
Freiheitssinn hat sich keine Metropole, weder diesseit noch
jenseit der Alpen, gefallen lassen und wird eine unglückselige
Centralisation der geistigen Interessen nie über sich ergehn
lassen. Darin also treffen unsere germanischen, wie unsere
hellenischen Sympathien zusammen, daß wir, wenn auch die
Vergrößerung der Hauptstädte unaufhaltsam fortschreitet, den
Einfluß derselben auf das richtige Maß zu bringen und zu¬
nächst für uns selbst die Vortheile des großstädtischen Lebens
wohl zu verwerthen suchen, ohne den Gefahren desselben zu
erliegen.

Das Leben einer bewegten Hauptstadt ist nicht gemacht,
die Schwächen zu pflegen, wie sie jeder Stand, so auch der
des Gelehrten zu haben pflegt. Es verzieht und verwöhnt
ihn nicht; es verlangt eine stete Selbstverläugnung, denn auf
dem großen Tummelplatze menschlicher Kräfte kann auch der

Große und kleine Städte.
ſind ſpäter die Städte gerade die Plätze geweſen, wo der
ſchwere Bann des Feudalismus gebrochen, wo die bürgerliche
Freiheit wie die der Gewiſſen errungen und dem deutſchen
Volksgeiſte ſeine Unabhängigkeit wieder gegeben iſt.

In Deutſchland wie in Griechenland ſind es die Städte
geweſen, in welchen die edelſten Güter des Volks erworben
worden ſind. Vor dem einſeitigen Stadtleben aber, an dem
die Griechen zu Grunde gegangen ſind, behütet uns die Liebe
zu Wald und Flur, welche wir von unſern Altvordern ererbt
haben. In Griechenland haben ſich die Bürgerſchaften einzelner
Städte mit einer Staunen erregenden Energie zu Mächten
der Geſchichte, ja der Weltgeſchichte erhoben, aber es fehlte
die ſichere Grundlage; je übermäßiger die Anſtrengung, um ſo
vollſtändiger die Erſchlaffung, um ſo aufzehrender die fieber¬
hafte Aufregung, welche den Mangel an Kraft erſetzen ſollte.
Athen behielt immer einen familienhaften Charakter und iſt
nie zur Großſtadt ausgewachſen.

In Italien wiederum wurde alles geſchichtliche Leben,
das in Gauen und Städten ſo fröhlich blühte, durch die auf¬
ſaugende Macht einer Stadt getödtet. Es entſtand eine öde
Monotonie, wie ſie bei uns unmöglich iſt. Denn der deutſche
Freiheitsſinn hat ſich keine Metropole, weder diesſeit noch
jenſeit der Alpen, gefallen laſſen und wird eine unglückſelige
Centraliſation der geiſtigen Intereſſen nie über ſich ergehn
laſſen. Darin alſo treffen unſere germaniſchen, wie unſere
helleniſchen Sympathien zuſammen, daß wir, wenn auch die
Vergrößerung der Hauptſtädte unaufhaltſam fortſchreitet, den
Einfluß derſelben auf das richtige Maß zu bringen und zu¬
nächſt für uns ſelbſt die Vortheile des großſtädtiſchen Lebens
wohl zu verwerthen ſuchen, ohne den Gefahren deſſelben zu
erliegen.

Das Leben einer bewegten Hauptſtadt iſt nicht gemacht,
die Schwächen zu pflegen, wie ſie jeder Stand, ſo auch der
des Gelehrten zu haben pflegt. Es verzieht und verwöhnt
ihn nicht; es verlangt eine ſtete Selbſtverläugnung, denn auf
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[381/0397] Große und kleine Städte. ſind ſpäter die Städte gerade die Plätze geweſen, wo der ſchwere Bann des Feudalismus gebrochen, wo die bürgerliche Freiheit wie die der Gewiſſen errungen und dem deutſchen Volksgeiſte ſeine Unabhängigkeit wieder gegeben iſt. In Deutſchland wie in Griechenland ſind es die Städte geweſen, in welchen die edelſten Güter des Volks erworben worden ſind. Vor dem einſeitigen Stadtleben aber, an dem die Griechen zu Grunde gegangen ſind, behütet uns die Liebe zu Wald und Flur, welche wir von unſern Altvordern ererbt haben. In Griechenland haben ſich die Bürgerſchaften einzelner Städte mit einer Staunen erregenden Energie zu Mächten der Geſchichte, ja der Weltgeſchichte erhoben, aber es fehlte die ſichere Grundlage; je übermäßiger die Anſtrengung, um ſo vollſtändiger die Erſchlaffung, um ſo aufzehrender die fieber¬ hafte Aufregung, welche den Mangel an Kraft erſetzen ſollte. Athen behielt immer einen familienhaften Charakter und iſt nie zur Großſtadt ausgewachſen. In Italien wiederum wurde alles geſchichtliche Leben, das in Gauen und Städten ſo fröhlich blühte, durch die auf¬ ſaugende Macht einer Stadt getödtet. Es entſtand eine öde Monotonie, wie ſie bei uns unmöglich iſt. Denn der deutſche Freiheitsſinn hat ſich keine Metropole, weder diesſeit noch jenſeit der Alpen, gefallen laſſen und wird eine unglückſelige Centraliſation der geiſtigen Intereſſen nie über ſich ergehn laſſen. Darin alſo treffen unſere germaniſchen, wie unſere helleniſchen Sympathien zuſammen, daß wir, wenn auch die Vergrößerung der Hauptſtädte unaufhaltſam fortſchreitet, den Einfluß derſelben auf das richtige Maß zu bringen und zu¬ nächſt für uns ſelbſt die Vortheile des großſtädtiſchen Lebens wohl zu verwerthen ſuchen, ohne den Gefahren deſſelben zu erliegen. Das Leben einer bewegten Hauptſtadt iſt nicht gemacht, die Schwächen zu pflegen, wie ſie jeder Stand, ſo auch der des Gelehrten zu haben pflegt. Es verzieht und verwöhnt ihn nicht; es verlangt eine ſtete Selbſtverläugnung, denn auf dem großen Tummelplatze menſchlicher Kräfte kann auch der

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/397>, abgerufen am 23.11.2024.