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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Große und kleine Städte.
Thätigkeit zu gute kommen muß, und wenn es hier mehr
Anstrengung kostet, die nöthige Ruhe zu gewinnen, so ist das,
was wir uns erringen, dann um so mehr unser eigen, und wir
fühlen uns auf dem engeren Besitze um so freier und unab¬
hängiger, gleich den Männern am Seestrande, welche sich
durch Dämme der eindringenden Fluthen erwehren. Es liegt
im Gegensatze eine wunderbare Macht. Je höher die Wellen
des äußeren Lebens gehen, um so mehr tritt auch die Reaction
ein, welche wie eine wohlthätige Naturmacht immer darauf
ausgeht, in den das Volksleben bewegenden und tragenden
Kräften ein normales Gleichgewicht herzustellen; darum werden
Weltgetümmel und tiefstes Stillleben, Weltglanz und höchste
Einfachheit, Weltlust und strengster Forscherernst immer neben
einander gefunden werden.

Darum sind die Großstädte nicht bloß Sammelplätze des
Erworbenen und Stätten alexandrinischer Bildung, sondern
sie sind von jeher auch in hohem Grade produktiv gewesen.
Denn die Berührung zwischen verschiedenen Volkselementen
erregt eine gewisse elektrische Strömung, ruft höhere Wärme
und energischere Lebensthätigkeit hervor. Was für Licht und
Weisheit vom alten Babel ausgeströmt ist, wird alle Tage
deutlicher. Aber um näher Liegendes anzuführen, die ersten
Weltstädte Griechenlands waren die kleinasiatischen Küsten¬
plätze, und wir hätten keinen Homer, wenn nicht in Smyrna
Aeolier, Achäer und Ionier zusammengeströmt wären. Milet,
der erste Tummelplatz des griechischen Welthandels, war auch
die Wiege aller forschenden Wissenschaft. Syrakus wurde
durch die Mischung seines Stadtvolks eine Schule des Dramas
wie der Redekunst und mitten im Gewühle zeichnete Archimedes
seine Kreise. Jene Philosophie aber, nach welcher wir noch
heute unsere Gedanken ordnen und unsere Urtheile bilden, ist
sie etwa in klösterlicher Abgeschiedenheit zu Stande gekommen
oder auf Straßen und Plätzen einer Großstadt? Sokrates
war ein eingefleischter Großstädter. Berge und Bäume, sagte
er, blieben ihm stumm, aber Unerschöpfliches lernte er an und
von den Menschen. Wie die Vorgänger des Sokrates im

Große und kleine Städte.
Thätigkeit zu gute kommen muß, und wenn es hier mehr
Anſtrengung koſtet, die nöthige Ruhe zu gewinnen, ſo iſt das,
was wir uns erringen, dann um ſo mehr unſer eigen, und wir
fühlen uns auf dem engeren Beſitze um ſo freier und unab¬
hängiger, gleich den Männern am Seeſtrande, welche ſich
durch Dämme der eindringenden Fluthen erwehren. Es liegt
im Gegenſatze eine wunderbare Macht. Je höher die Wellen
des äußeren Lebens gehen, um ſo mehr tritt auch die Reaction
ein, welche wie eine wohlthätige Naturmacht immer darauf
ausgeht, in den das Volksleben bewegenden und tragenden
Kräften ein normales Gleichgewicht herzuſtellen; darum werden
Weltgetümmel und tiefſtes Stillleben, Weltglanz und höchſte
Einfachheit, Weltluſt und ſtrengſter Forſcherernſt immer neben
einander gefunden werden.

Darum ſind die Großſtädte nicht bloß Sammelplätze des
Erworbenen und Stätten alexandriniſcher Bildung, ſondern
ſie ſind von jeher auch in hohem Grade produktiv geweſen.
Denn die Berührung zwiſchen verſchiedenen Volkselementen
erregt eine gewiſſe elektriſche Strömung, ruft höhere Wärme
und energiſchere Lebensthätigkeit hervor. Was für Licht und
Weisheit vom alten Babel ausgeſtrömt iſt, wird alle Tage
deutlicher. Aber um näher Liegendes anzuführen, die erſten
Weltſtädte Griechenlands waren die kleinaſiatiſchen Küſten¬
plätze, und wir hätten keinen Homer, wenn nicht in Smyrna
Aeolier, Achäer und Ionier zuſammengeſtrömt wären. Milet,
der erſte Tummelplatz des griechiſchen Welthandels, war auch
die Wiege aller forſchenden Wiſſenſchaft. Syrakus wurde
durch die Miſchung ſeines Stadtvolks eine Schule des Dramas
wie der Redekunſt und mitten im Gewühle zeichnete Archimedes
ſeine Kreiſe. Jene Philoſophie aber, nach welcher wir noch
heute unſere Gedanken ordnen und unſere Urtheile bilden, iſt
ſie etwa in klöſterlicher Abgeſchiedenheit zu Stande gekommen
oder auf Straßen und Plätzen einer Großſtadt? Sokrates
war ein eingefleiſchter Großſtädter. Berge und Bäume, ſagte
er, blieben ihm ſtumm, aber Unerſchöpfliches lernte er an und
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[377/0393] Große und kleine Städte. Thätigkeit zu gute kommen muß, und wenn es hier mehr Anſtrengung koſtet, die nöthige Ruhe zu gewinnen, ſo iſt das, was wir uns erringen, dann um ſo mehr unſer eigen, und wir fühlen uns auf dem engeren Beſitze um ſo freier und unab¬ hängiger, gleich den Männern am Seeſtrande, welche ſich durch Dämme der eindringenden Fluthen erwehren. Es liegt im Gegenſatze eine wunderbare Macht. Je höher die Wellen des äußeren Lebens gehen, um ſo mehr tritt auch die Reaction ein, welche wie eine wohlthätige Naturmacht immer darauf ausgeht, in den das Volksleben bewegenden und tragenden Kräften ein normales Gleichgewicht herzuſtellen; darum werden Weltgetümmel und tiefſtes Stillleben, Weltglanz und höchſte Einfachheit, Weltluſt und ſtrengſter Forſcherernſt immer neben einander gefunden werden. Darum ſind die Großſtädte nicht bloß Sammelplätze des Erworbenen und Stätten alexandriniſcher Bildung, ſondern ſie ſind von jeher auch in hohem Grade produktiv geweſen. Denn die Berührung zwiſchen verſchiedenen Volkselementen erregt eine gewiſſe elektriſche Strömung, ruft höhere Wärme und energiſchere Lebensthätigkeit hervor. Was für Licht und Weisheit vom alten Babel ausgeſtrömt iſt, wird alle Tage deutlicher. Aber um näher Liegendes anzuführen, die erſten Weltſtädte Griechenlands waren die kleinaſiatiſchen Küſten¬ plätze, und wir hätten keinen Homer, wenn nicht in Smyrna Aeolier, Achäer und Ionier zuſammengeſtrömt wären. Milet, der erſte Tummelplatz des griechiſchen Welthandels, war auch die Wiege aller forſchenden Wiſſenſchaft. Syrakus wurde durch die Miſchung ſeines Stadtvolks eine Schule des Dramas wie der Redekunſt und mitten im Gewühle zeichnete Archimedes ſeine Kreiſe. Jene Philoſophie aber, nach welcher wir noch heute unſere Gedanken ordnen und unſere Urtheile bilden, iſt ſie etwa in klöſterlicher Abgeſchiedenheit zu Stande gekommen oder auf Straßen und Plätzen einer Großſtadt? Sokrates war ein eingefleiſchter Großſtädter. Berge und Bäume, ſagte er, blieben ihm ſtumm, aber Unerſchöpfliches lernte er an und von den Menſchen. Wie die Vorgänger des Sokrates im

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/393>, abgerufen am 23.11.2024.