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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Große und kleine Städte.
wältigen suchten, indem sie alle Anstalten des höheren Unter¬
richts sich vorbehielten. Hier zeigt sich der erste Versuch, über
den Kreis des Kantonalen hinauszugehen, den Charakter des
Oertlichen abzustreifen und dem Nationalen einen Ausdruck
zu geben.

Indessen handelte es sich hier nur um Einigung benach¬
barter Stammgenossen. Eine neue Art von Städten erwuchs
aus den Orten, wo Angehörige verschiedener Stämme an
einem Stadtherde versammelt wurden. Dies geschah in Syrakus,
als Gelon eine Menge neuer Bürger hereinzog, dasselbe in
den Gründungen des Perikles, dort aus dynastischer Politik,
damit die ungeordnete Menge nur in dem Fürstenhause ihren
Halt und Zusammenhang habe, hier aus nationalen Gesichts¬
punkten, um Angehörige verschiedener Stämme mit einander
zu verschmelzen. Das waren Großstädte nach dem Maße des
griechischen Alterthums, wie auch Athen selbst eine solche wer¬
den sollte; Städte, welche bestimmt waren, Reichsmittelpunkte
zu werden. So sehr aber auch den Griechen gelungen ist, was
durch Gründung von Cantonstädten und durch Erhebung ein¬
zelner unter ihnen zu vorörtlichen Städten erreicht werden
kann, wirkliche Großstädte haben sie nicht gehabt, weil sie nur
Stadtverfassungen, aber keine Reichsverfassungen zu schaffen
wußten. Griechische Großstädte sind erst im Oriente zu Stande
gekommen, als die Griechen nicht mehr Träger einer eignen
Geschichte waren, sondern nur das Material zu weiterer Cultur¬
entwickelung.

Was aber die Griechen zuerst mit voller Klarheit erkannt
und werkthätig durchgeführt haben, daß die Stadt ein mit
künstlerischer Intelligenz geordnetes Ganze sein müsse, dessen
Schönheit auf dem Maße beruht: das fühlen wir Alle ihnen
nach und erfahren es auch an uns selbst, wenn wir im Vater¬
lande wandern und in eine Stadt kommen, die beim ersten
Anblick den wohlthuenden Eindruck glücklicher Begränzung auf
uns macht, eine Stadt, die auf wohl gewähltem Boden wie
ein Bild vor uns liegt, wo örtliche Sitte und väterliche Ueber¬
lieferung uns vertraulich anspricht. Nicht ins Unendliche dehnen

Große und kleine Städte.
wältigen ſuchten, indem ſie alle Anſtalten des höheren Unter¬
richts ſich vorbehielten. Hier zeigt ſich der erſte Verſuch, über
den Kreis des Kantonalen hinauszugehen, den Charakter des
Oertlichen abzuſtreifen und dem Nationalen einen Ausdruck
zu geben.

Indeſſen handelte es ſich hier nur um Einigung benach¬
barter Stammgenoſſen. Eine neue Art von Städten erwuchs
aus den Orten, wo Angehörige verſchiedener Stämme an
einem Stadtherde verſammelt wurden. Dies geſchah in Syrakus,
als Gelon eine Menge neuer Bürger hereinzog, daſſelbe in
den Gründungen des Perikles, dort aus dynaſtiſcher Politik,
damit die ungeordnete Menge nur in dem Fürſtenhauſe ihren
Halt und Zuſammenhang habe, hier aus nationalen Geſichts¬
punkten, um Angehörige verſchiedener Stämme mit einander
zu verſchmelzen. Das waren Großſtädte nach dem Maße des
griechiſchen Alterthums, wie auch Athen ſelbſt eine ſolche wer¬
den ſollte; Städte, welche beſtimmt waren, Reichsmittelpunkte
zu werden. So ſehr aber auch den Griechen gelungen iſt, was
durch Gründung von Cantonſtädten und durch Erhebung ein¬
zelner unter ihnen zu vorörtlichen Städten erreicht werden
kann, wirkliche Großſtädte haben ſie nicht gehabt, weil ſie nur
Stadtverfaſſungen, aber keine Reichsverfaſſungen zu ſchaffen
wußten. Griechiſche Großſtädte ſind erſt im Oriente zu Stande
gekommen, als die Griechen nicht mehr Träger einer eignen
Geſchichte waren, ſondern nur das Material zu weiterer Cultur¬
entwickelung.

Was aber die Griechen zuerſt mit voller Klarheit erkannt
und werkthätig durchgeführt haben, daß die Stadt ein mit
künſtleriſcher Intelligenz geordnetes Ganze ſein müſſe, deſſen
Schönheit auf dem Maße beruht: das fühlen wir Alle ihnen
nach und erfahren es auch an uns ſelbſt, wenn wir im Vater¬
lande wandern und in eine Stadt kommen, die beim erſten
Anblick den wohlthuenden Eindruck glücklicher Begränzung auf
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[375/0391] Große und kleine Städte. wältigen ſuchten, indem ſie alle Anſtalten des höheren Unter¬ richts ſich vorbehielten. Hier zeigt ſich der erſte Verſuch, über den Kreis des Kantonalen hinauszugehen, den Charakter des Oertlichen abzuſtreifen und dem Nationalen einen Ausdruck zu geben. Indeſſen handelte es ſich hier nur um Einigung benach¬ barter Stammgenoſſen. Eine neue Art von Städten erwuchs aus den Orten, wo Angehörige verſchiedener Stämme an einem Stadtherde verſammelt wurden. Dies geſchah in Syrakus, als Gelon eine Menge neuer Bürger hereinzog, daſſelbe in den Gründungen des Perikles, dort aus dynaſtiſcher Politik, damit die ungeordnete Menge nur in dem Fürſtenhauſe ihren Halt und Zuſammenhang habe, hier aus nationalen Geſichts¬ punkten, um Angehörige verſchiedener Stämme mit einander zu verſchmelzen. Das waren Großſtädte nach dem Maße des griechiſchen Alterthums, wie auch Athen ſelbſt eine ſolche wer¬ den ſollte; Städte, welche beſtimmt waren, Reichsmittelpunkte zu werden. So ſehr aber auch den Griechen gelungen iſt, was durch Gründung von Cantonſtädten und durch Erhebung ein¬ zelner unter ihnen zu vorörtlichen Städten erreicht werden kann, wirkliche Großſtädte haben ſie nicht gehabt, weil ſie nur Stadtverfaſſungen, aber keine Reichsverfaſſungen zu ſchaffen wußten. Griechiſche Großſtädte ſind erſt im Oriente zu Stande gekommen, als die Griechen nicht mehr Träger einer eignen Geſchichte waren, ſondern nur das Material zu weiterer Cultur¬ entwickelung. Was aber die Griechen zuerſt mit voller Klarheit erkannt und werkthätig durchgeführt haben, daß die Stadt ein mit künſtleriſcher Intelligenz geordnetes Ganze ſein müſſe, deſſen Schönheit auf dem Maße beruht: das fühlen wir Alle ihnen nach und erfahren es auch an uns ſelbſt, wenn wir im Vater¬ lande wandern und in eine Stadt kommen, die beim erſten Anblick den wohlthuenden Eindruck glücklicher Begränzung auf uns macht, eine Stadt, die auf wohl gewähltem Boden wie ein Bild vor uns liegt, wo örtliche Sitte und väterliche Ueber¬ lieferung uns vertraulich anſpricht. Nicht ins Unendliche dehnen

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/391>, abgerufen am 23.11.2024.