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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Das alte und neue Griechenland.
Reichthume an Lebensformen noch weniger durchsucht sind,
erweitert seinen wissenschaftlichen Gesichtskreis; Land und Luft
bieten dem Auge täglich neue Erscheinungen und das Netz,
das durch die Tiefe des Meers gezogen wird, führt immer
neue Wunder der Schöpfung an das Tageslicht.

Anders verhält es sich mit dem Philologen und dem
Historiker. Sie leben mit ihrer Wissenschaft in einer Welt,
die den Sinnen entrückt ist; hier scheint von dem geistigen
Blicke, der die echte Ueberlieferung von der entstellten zu unter¬
scheiden weiß, von dem geistigen Verständnisse der Vorzeit
und ihrer Schriftwerke Alles abzuhängen. Und wenn nun
der Philologe ins Besondere das reiche Gebiet der alten
Litteratur durchmißt, den Zusammenhang derselben ergründet,
die Sprache in ihrem natürlichen Organismus und ihrer ge¬
schichtlichen Entwickelung erforscht, so liegt da ein nicht leicht
zu erschöpfendes Arbeitsfeld vor ihm. Auch haben ausge¬
zeichnete Männer eine Beschränkung der Philologie auf Sprache
und Litteratur dringend empfohlen und nur auf dem Gebiete
einer also vorsichtig beschränkten Disciplin die Ausbildung
einer festen Methode und einen sicheren Fortschritt für möglich
erachtet.

Heutzutage werden diese Begränzung nur Wenige noch
ernstlich verlangen. Jede willkürliche Einengung eines wissen¬
schaftlichen Arbeitsfeldes ist unhaltbar und bleibt auch für
das engere Gebiet, dem sie zu gute kommen soll, ohne Nutzen.

Aber auch für den, welcher seiner Neigung zu Folge auf
das Studium der alten Litteratur sich beschränkt, kann die
Anschauung der klassischen Länder nicht gleichgültig sein. Auch
die Auserwählten einer Nation, ihre Dichter, Historiker, Redner
und Philosophen, sind ohne den Hintergrund der gesammten
Nationalität nicht zu verstehen und diese wiederum nicht ohne
die Naturbeschaffenheit des Landes. Wer die Alten nur aus
Büchern kennt, dem erscheint die Welt derselben leicht, wie auf
einem andern Himmelskörper gelegen, fremdartig und unbe¬
greiflich, und doch war es eine menschliche und von den Aeußer¬
lichkeiten des Lebens abhängige Welt gleich der unsrigen,

Das alte und neue Griechenland.
Reichthume an Lebensformen noch weniger durchſucht ſind,
erweitert ſeinen wiſſenſchaftlichen Geſichtskreis; Land und Luft
bieten dem Auge täglich neue Erſcheinungen und das Netz,
das durch die Tiefe des Meers gezogen wird, führt immer
neue Wunder der Schöpfung an das Tageslicht.

Anders verhält es ſich mit dem Philologen und dem
Hiſtoriker. Sie leben mit ihrer Wiſſenſchaft in einer Welt,
die den Sinnen entrückt iſt; hier ſcheint von dem geiſtigen
Blicke, der die echte Ueberlieferung von der entſtellten zu unter¬
ſcheiden weiß, von dem geiſtigen Verſtändniſſe der Vorzeit
und ihrer Schriftwerke Alles abzuhängen. Und wenn nun
der Philologe ins Beſondere das reiche Gebiet der alten
Litteratur durchmißt, den Zuſammenhang derſelben ergründet,
die Sprache in ihrem natürlichen Organismus und ihrer ge¬
ſchichtlichen Entwickelung erforſcht, ſo liegt da ein nicht leicht
zu erſchöpfendes Arbeitsfeld vor ihm. Auch haben ausge¬
zeichnete Männer eine Beſchränkung der Philologie auf Sprache
und Litteratur dringend empfohlen und nur auf dem Gebiete
einer alſo vorſichtig beſchränkten Disciplin die Ausbildung
einer feſten Methode und einen ſicheren Fortſchritt für möglich
erachtet.

Heutzutage werden dieſe Begränzung nur Wenige noch
ernſtlich verlangen. Jede willkürliche Einengung eines wiſſen¬
ſchaftlichen Arbeitsfeldes iſt unhaltbar und bleibt auch für
das engere Gebiet, dem ſie zu gute kommen ſoll, ohne Nutzen.

Aber auch für den, welcher ſeiner Neigung zu Folge auf
das Studium der alten Litteratur ſich beſchränkt, kann die
Anſchauung der klaſſiſchen Länder nicht gleichgültig ſein. Auch
die Auserwählten einer Nation, ihre Dichter, Hiſtoriker, Redner
und Philoſophen, ſind ohne den Hintergrund der geſammten
Nationalität nicht zu verſtehen und dieſe wiederum nicht ohne
die Naturbeſchaffenheit des Landes. Wer die Alten nur aus
Büchern kennt, dem erſcheint die Welt derſelben leicht, wie auf
einem andern Himmelskörper gelegen, fremdartig und unbe¬
greiflich, und doch war es eine menſchliche und von den Aeußer¬
lichkeiten des Lebens abhängige Welt gleich der unſrigen,

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[23/0039] Das alte und neue Griechenland. Reichthume an Lebensformen noch weniger durchſucht ſind, erweitert ſeinen wiſſenſchaftlichen Geſichtskreis; Land und Luft bieten dem Auge täglich neue Erſcheinungen und das Netz, das durch die Tiefe des Meers gezogen wird, führt immer neue Wunder der Schöpfung an das Tageslicht. Anders verhält es ſich mit dem Philologen und dem Hiſtoriker. Sie leben mit ihrer Wiſſenſchaft in einer Welt, die den Sinnen entrückt iſt; hier ſcheint von dem geiſtigen Blicke, der die echte Ueberlieferung von der entſtellten zu unter¬ ſcheiden weiß, von dem geiſtigen Verſtändniſſe der Vorzeit und ihrer Schriftwerke Alles abzuhängen. Und wenn nun der Philologe ins Beſondere das reiche Gebiet der alten Litteratur durchmißt, den Zuſammenhang derſelben ergründet, die Sprache in ihrem natürlichen Organismus und ihrer ge¬ ſchichtlichen Entwickelung erforſcht, ſo liegt da ein nicht leicht zu erſchöpfendes Arbeitsfeld vor ihm. Auch haben ausge¬ zeichnete Männer eine Beſchränkung der Philologie auf Sprache und Litteratur dringend empfohlen und nur auf dem Gebiete einer alſo vorſichtig beſchränkten Disciplin die Ausbildung einer feſten Methode und einen ſicheren Fortſchritt für möglich erachtet. Heutzutage werden dieſe Begränzung nur Wenige noch ernſtlich verlangen. Jede willkürliche Einengung eines wiſſen¬ ſchaftlichen Arbeitsfeldes iſt unhaltbar und bleibt auch für das engere Gebiet, dem ſie zu gute kommen ſoll, ohne Nutzen. Aber auch für den, welcher ſeiner Neigung zu Folge auf das Studium der alten Litteratur ſich beſchränkt, kann die Anſchauung der klaſſiſchen Länder nicht gleichgültig ſein. Auch die Auserwählten einer Nation, ihre Dichter, Hiſtoriker, Redner und Philoſophen, ſind ohne den Hintergrund der geſammten Nationalität nicht zu verſtehen und dieſe wiederum nicht ohne die Naturbeſchaffenheit des Landes. Wer die Alten nur aus Büchern kennt, dem erſcheint die Welt derſelben leicht, wie auf einem andern Himmelskörper gelegen, fremdartig und unbe¬ greiflich, und doch war es eine menſchliche und von den Aeußer¬ lichkeiten des Lebens abhängige Welt gleich der unſrigen,

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/39>, abgerufen am 22.11.2024.