Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Große und kleine Städte.
Seite ein Drängen nach den Hauptstädten, als wenn dort
allein Glück und Befriedigung zu finden wäre, andererseits
Abneigung, Ueberdruß und Sehnsucht nach anderen Lebens¬
formen. Wie dieser Widerspruch zu beurtheilen sei, ist eine
Frage, deren Erwägung des festlichen Tags nicht unwerth
erscheint, zumal wenn wir ihr auf dem Wege geschichtlicher
Betrachtung näher zu kommen suchen und wenn sich dabei
auch für unsere Gemeinschaft einige Gesichtspunkte ergeben
sollten, deren Beherzigung der Würde des Tags entspricht.

Die Abneigung gegen die großen Städte ist kein persön¬
liche Laune Einzelner, sondern es liegt ihr etwas Allgemeines
und Angestammtes zu Grunde; sie liegt uns Deutschen im
Blute. Wir kennen unsere Altvordern nicht anders, als daß
sie allem Stadtleben abgeneigt waren, und zwar mit vollem
Bewußtsein. Sie sahen es als eine Falle an, in der sie zu
Schaden kommen müßten, als ein der Gesundheit des Volks
drohendes Gift. Wie das Wild im Gehege seines angestammten
Muths vergesse, so glaubten sie innerhalb städtischer Mauern
entarten zu müssen.

Bei weiterem Umblick finden wir, daß das Widerstreben
gegen gedrängte und geschlossene Wohnsitze nicht den Germanen
allein eigen ist, sondern allen mit ihnen verwandten Volks¬
stämmen, und zwar ist das vorstädtische Leben derselben kein
durchaus vorgeschichtliches, so daß man sich denken könnte, es
stamme das Bild desselben aus einer Zeit, wo man, vom
Stadtleben übersättigt, die Gründung von Städten als eine
Art Sündenfall ansah, welche die Menschen klüger und ge¬
schickter, aber auch unreiner und unglücklicher gemacht habe:
sondern man kann Glieder des großen Völkergeschlechts noch
heute in solchem Zustande nachweisen. Als im Anfange dieses
Jahrhunderts der erste Europäer die Thäler von Kabul be¬
reiste, fesselten ihn die in voller Ursprünglichkeit erhaltenen
Gauverfassungen der dortigen Stämme, und unser trefflicher
Historiker Wilken machte sofort darauf aufmerksam, daß sich
hier ganz ähnliche Verhältnisse vorfänden, wie sie Herodot und
Xenophon von den Persern, Tacitus von den Germanen meldeten.

Große und kleine Städte.
Seite ein Drängen nach den Hauptſtädten, als wenn dort
allein Glück und Befriedigung zu finden wäre, andererſeits
Abneigung, Ueberdruß und Sehnſucht nach anderen Lebens¬
formen. Wie dieſer Widerſpruch zu beurtheilen ſei, iſt eine
Frage, deren Erwägung des feſtlichen Tags nicht unwerth
erſcheint, zumal wenn wir ihr auf dem Wege geſchichtlicher
Betrachtung näher zu kommen ſuchen und wenn ſich dabei
auch für unſere Gemeinſchaft einige Geſichtspunkte ergeben
ſollten, deren Beherzigung der Würde des Tags entſpricht.

Die Abneigung gegen die großen Städte iſt kein perſön¬
liche Laune Einzelner, ſondern es liegt ihr etwas Allgemeines
und Angeſtammtes zu Grunde; ſie liegt uns Deutſchen im
Blute. Wir kennen unſere Altvordern nicht anders, als daß
ſie allem Stadtleben abgeneigt waren, und zwar mit vollem
Bewußtſein. Sie ſahen es als eine Falle an, in der ſie zu
Schaden kommen müßten, als ein der Geſundheit des Volks
drohendes Gift. Wie das Wild im Gehege ſeines angeſtammten
Muths vergeſſe, ſo glaubten ſie innerhalb ſtädtiſcher Mauern
entarten zu müſſen.

Bei weiterem Umblick finden wir, daß das Widerſtreben
gegen gedrängte und geſchloſſene Wohnſitze nicht den Germanen
allein eigen iſt, ſondern allen mit ihnen verwandten Volks¬
ſtämmen, und zwar iſt das vorſtädtiſche Leben derſelben kein
durchaus vorgeſchichtliches, ſo daß man ſich denken könnte, es
ſtamme das Bild deſſelben aus einer Zeit, wo man, vom
Stadtleben überſättigt, die Gründung von Städten als eine
Art Sündenfall anſah, welche die Menſchen klüger und ge¬
ſchickter, aber auch unreiner und unglücklicher gemacht habe:
ſondern man kann Glieder des großen Völkergeſchlechts noch
heute in ſolchem Zuſtande nachweiſen. Als im Anfange dieſes
Jahrhunderts der erſte Europäer die Thäler von Kabul be¬
reiſte, feſſelten ihn die in voller Urſprünglichkeit erhaltenen
Gauverfaſſungen der dortigen Stämme, und unſer trefflicher
Hiſtoriker Wilken machte ſofort darauf aufmerkſam, daß ſich
hier ganz ähnliche Verhältniſſe vorfänden, wie ſie Herodot und
Xenophon von den Perſern, Tacitus von den Germanen meldeten.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0386" n="370"/><fw place="top" type="header">Große und kleine Städte.<lb/></fw>Seite ein Drängen nach den Haupt&#x017F;tädten, als wenn dort<lb/>
allein Glück und Befriedigung zu finden wäre, anderer&#x017F;eits<lb/>
Abneigung, Ueberdruß und Sehn&#x017F;ucht nach anderen Lebens¬<lb/>
formen. Wie die&#x017F;er Wider&#x017F;pruch zu beurtheilen &#x017F;ei, i&#x017F;t eine<lb/>
Frage, deren Erwägung des fe&#x017F;tlichen Tags nicht unwerth<lb/>
er&#x017F;cheint, zumal wenn wir ihr auf dem Wege ge&#x017F;chichtlicher<lb/>
Betrachtung näher zu kommen &#x017F;uchen und wenn &#x017F;ich dabei<lb/>
auch für un&#x017F;ere Gemein&#x017F;chaft einige Ge&#x017F;ichtspunkte ergeben<lb/>
&#x017F;ollten, deren Beherzigung der Würde des Tags ent&#x017F;pricht.</p><lb/>
        <p>Die Abneigung gegen die großen Städte i&#x017F;t kein per&#x017F;ön¬<lb/>
liche Laune Einzelner, &#x017F;ondern es liegt ihr etwas Allgemeines<lb/>
und Ange&#x017F;tammtes zu Grunde; &#x017F;ie liegt uns Deut&#x017F;chen im<lb/>
Blute. Wir kennen un&#x017F;ere Altvordern nicht anders, als daß<lb/>
&#x017F;ie allem Stadtleben abgeneigt waren, und zwar mit vollem<lb/>
Bewußt&#x017F;ein. Sie &#x017F;ahen es als eine Falle an, in der &#x017F;ie zu<lb/>
Schaden kommen müßten, als ein der Ge&#x017F;undheit des Volks<lb/>
drohendes Gift. Wie das Wild im Gehege &#x017F;eines ange&#x017F;tammten<lb/>
Muths verge&#x017F;&#x017F;e, &#x017F;o glaubten &#x017F;ie innerhalb &#x017F;tädti&#x017F;cher Mauern<lb/>
entarten zu mü&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>Bei weiterem Umblick finden wir, daß das Wider&#x017F;treben<lb/>
gegen gedrängte und ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene Wohn&#x017F;itze nicht den Germanen<lb/>
allein eigen i&#x017F;t, &#x017F;ondern allen mit ihnen verwandten Volks¬<lb/>
&#x017F;tämmen, und zwar i&#x017F;t das vor&#x017F;tädti&#x017F;che Leben der&#x017F;elben kein<lb/>
durchaus vorge&#x017F;chichtliches, &#x017F;o daß man &#x017F;ich denken könnte, es<lb/>
&#x017F;tamme das Bild de&#x017F;&#x017F;elben aus einer Zeit, wo man, vom<lb/>
Stadtleben über&#x017F;ättigt, die Gründung von Städten als eine<lb/>
Art Sündenfall an&#x017F;ah, welche die Men&#x017F;chen klüger und ge¬<lb/>
&#x017F;chickter, aber auch unreiner und unglücklicher gemacht habe:<lb/>
&#x017F;ondern man kann Glieder des großen Völkerge&#x017F;chlechts noch<lb/>
heute in &#x017F;olchem Zu&#x017F;tande nachwei&#x017F;en. Als im Anfange die&#x017F;es<lb/>
Jahrhunderts der er&#x017F;te Europäer die Thäler von Kabul be¬<lb/>
rei&#x017F;te, fe&#x017F;&#x017F;elten ihn die in voller Ur&#x017F;prünglichkeit erhaltenen<lb/>
Gauverfa&#x017F;&#x017F;ungen der dortigen Stämme, und un&#x017F;er trefflicher<lb/>
Hi&#x017F;toriker Wilken machte &#x017F;ofort darauf aufmerk&#x017F;am, daß &#x017F;ich<lb/>
hier ganz ähnliche Verhältni&#x017F;&#x017F;e vorfänden, wie &#x017F;ie Herodot und<lb/>
Xenophon von den Per&#x017F;ern, Tacitus von den Germanen meldeten.<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[370/0386] Große und kleine Städte. Seite ein Drängen nach den Hauptſtädten, als wenn dort allein Glück und Befriedigung zu finden wäre, andererſeits Abneigung, Ueberdruß und Sehnſucht nach anderen Lebens¬ formen. Wie dieſer Widerſpruch zu beurtheilen ſei, iſt eine Frage, deren Erwägung des feſtlichen Tags nicht unwerth erſcheint, zumal wenn wir ihr auf dem Wege geſchichtlicher Betrachtung näher zu kommen ſuchen und wenn ſich dabei auch für unſere Gemeinſchaft einige Geſichtspunkte ergeben ſollten, deren Beherzigung der Würde des Tags entſpricht. Die Abneigung gegen die großen Städte iſt kein perſön¬ liche Laune Einzelner, ſondern es liegt ihr etwas Allgemeines und Angeſtammtes zu Grunde; ſie liegt uns Deutſchen im Blute. Wir kennen unſere Altvordern nicht anders, als daß ſie allem Stadtleben abgeneigt waren, und zwar mit vollem Bewußtſein. Sie ſahen es als eine Falle an, in der ſie zu Schaden kommen müßten, als ein der Geſundheit des Volks drohendes Gift. Wie das Wild im Gehege ſeines angeſtammten Muths vergeſſe, ſo glaubten ſie innerhalb ſtädtiſcher Mauern entarten zu müſſen. Bei weiterem Umblick finden wir, daß das Widerſtreben gegen gedrängte und geſchloſſene Wohnſitze nicht den Germanen allein eigen iſt, ſondern allen mit ihnen verwandten Volks¬ ſtämmen, und zwar iſt das vorſtädtiſche Leben derſelben kein durchaus vorgeſchichtliches, ſo daß man ſich denken könnte, es ſtamme das Bild deſſelben aus einer Zeit, wo man, vom Stadtleben überſättigt, die Gründung von Städten als eine Art Sündenfall anſah, welche die Menſchen klüger und ge¬ ſchickter, aber auch unreiner und unglücklicher gemacht habe: ſondern man kann Glieder des großen Völkergeſchlechts noch heute in ſolchem Zuſtande nachweiſen. Als im Anfange dieſes Jahrhunderts der erſte Europäer die Thäler von Kabul be¬ reiſte, feſſelten ihn die in voller Urſprünglichkeit erhaltenen Gauverfaſſungen der dortigen Stämme, und unſer trefflicher Hiſtoriker Wilken machte ſofort darauf aufmerkſam, daß ſich hier ganz ähnliche Verhältniſſe vorfänden, wie ſie Herodot und Xenophon von den Perſern, Tacitus von den Germanen meldeten.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/386
Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/386>, abgerufen am 23.11.2024.