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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Weihe des Siegs.
unsers nationalen Lebens, nach dem wir uns lange gesehnt
hatten, eine Bedingung politischer Macht, eine Bürgschaft des
Friedens und des wirthschaftlichen Gedeihens, sondern die
unerläßliche Voraussetzung unsers Heils. Die Nation mußte
gesammelt werden, wenn sie nicht untergehen sollte, wie einst
die edelsten Völker der alten Welt, die Hellenen sowohl wie
das Volk Israel, durch versäumte Einigung zu Grunde ge¬
gangen sind. Die Zersplitterung schädigte unsere wesentlichsten
Interessen. Denn schlimmer als jeder ehrliche Krieg waren
die endlosen Ränke und Fehden zwischen den deutschen Cabi¬
netten, die Reibungen zwischen den Nachbarn, die hämische
Scheelsucht des einen auf den andern, die Unmöglichkeit Recht
zu erlangen bei zweifellosem Friedensbruche. Trübsinn lag
auf den Herzen der Vaterlandsfreunde und lähmte ihre Energie;
in vergeblichen Mühen rieben sich die edelsten Kräfte auf und
das Unkraut der Zwietracht wucherte. Darum ist König Wil¬
helm der Retter des Vaterlandes, und nicht eines einzelnen
Siegs wegen ist Er, einem römischen Feldherrn gleich, von
seinen Legionen zum Imperator ausgerufen, sondern was seit
Jahrhunderten sich im Stillen vorbereitet hat, was von pro¬
phetischen Blicken längst geschaut und zuletzt vom ganzen Volke
als nothwendig erkannt war, das hat sich endlich, da die Zeit
erfüllet war, vor unsern Augen vollzogen.

Alte Sagen erzählen uns von dem Blute der Helden,
welches sich in Blumen verwandelt, die in jedem Frühjahr
das Gedächtniß der Todten erneuern. So ist aus dem Blute,
das unsere Krieger aus Nord und Süd in treuer Waffen¬
genossenschaft vergossen haben, das edle Reis deutscher Einheit
erwachsen, ein köstliches Gut, um theuern Preis erworben,
das wir zu Ehren unserer Brüder zu pflegen haben. Denn
niemals ist mit ernsterer Feier der Grundstein eines Reiches
gelegt, vollgültiger und rechtmäßiger keine Fürstenwahl voll¬
zogen worden. Unsere Väter waren froh diesen Tag zu sehen
und sind im Glauben an seine Zukunft heimgegangen. Heute
ist er erschienen. Heute ist das deutsche Volk zum ersten Male
wieder um seinen Kaiser versammelt, heute ist ein Frühlings¬

Die Weihe des Siegs.
unſers nationalen Lebens, nach dem wir uns lange geſehnt
hatten, eine Bedingung politiſcher Macht, eine Bürgſchaft des
Friedens und des wirthſchaftlichen Gedeihens, ſondern die
unerläßliche Vorausſetzung unſers Heils. Die Nation mußte
geſammelt werden, wenn ſie nicht untergehen ſollte, wie einſt
die edelſten Völker der alten Welt, die Hellenen ſowohl wie
das Volk Iſrael, durch verſäumte Einigung zu Grunde ge¬
gangen ſind. Die Zerſplitterung ſchädigte unſere weſentlichſten
Intereſſen. Denn ſchlimmer als jeder ehrliche Krieg waren
die endloſen Ränke und Fehden zwiſchen den deutſchen Cabi¬
netten, die Reibungen zwiſchen den Nachbarn, die hämiſche
Scheelſucht des einen auf den andern, die Unmöglichkeit Recht
zu erlangen bei zweifelloſem Friedensbruche. Trübſinn lag
auf den Herzen der Vaterlandsfreunde und lähmte ihre Energie;
in vergeblichen Mühen rieben ſich die edelſten Kräfte auf und
das Unkraut der Zwietracht wucherte. Darum iſt König Wil¬
helm der Retter des Vaterlandes, und nicht eines einzelnen
Siegs wegen iſt Er, einem römiſchen Feldherrn gleich, von
ſeinen Legionen zum Imperator ausgerufen, ſondern was ſeit
Jahrhunderten ſich im Stillen vorbereitet hat, was von pro¬
phetiſchen Blicken längſt geſchaut und zuletzt vom ganzen Volke
als nothwendig erkannt war, das hat ſich endlich, da die Zeit
erfüllet war, vor unſern Augen vollzogen.

Alte Sagen erzählen uns von dem Blute der Helden,
welches ſich in Blumen verwandelt, die in jedem Frühjahr
das Gedächtniß der Todten erneuern. So iſt aus dem Blute,
das unſere Krieger aus Nord und Süd in treuer Waffen¬
genoſſenſchaft vergoſſen haben, das edle Reis deutſcher Einheit
erwachſen, ein köſtliches Gut, um theuern Preis erworben,
das wir zu Ehren unſerer Brüder zu pflegen haben. Denn
niemals iſt mit ernſterer Feier der Grundſtein eines Reiches
gelegt, vollgültiger und rechtmäßiger keine Fürſtenwahl voll¬
zogen worden. Unſere Väter waren froh dieſen Tag zu ſehen
und ſind im Glauben an ſeine Zukunft heimgegangen. Heute
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[346/0362] Die Weihe des Siegs. unſers nationalen Lebens, nach dem wir uns lange geſehnt hatten, eine Bedingung politiſcher Macht, eine Bürgſchaft des Friedens und des wirthſchaftlichen Gedeihens, ſondern die unerläßliche Vorausſetzung unſers Heils. Die Nation mußte geſammelt werden, wenn ſie nicht untergehen ſollte, wie einſt die edelſten Völker der alten Welt, die Hellenen ſowohl wie das Volk Iſrael, durch verſäumte Einigung zu Grunde ge¬ gangen ſind. Die Zerſplitterung ſchädigte unſere weſentlichſten Intereſſen. Denn ſchlimmer als jeder ehrliche Krieg waren die endloſen Ränke und Fehden zwiſchen den deutſchen Cabi¬ netten, die Reibungen zwiſchen den Nachbarn, die hämiſche Scheelſucht des einen auf den andern, die Unmöglichkeit Recht zu erlangen bei zweifelloſem Friedensbruche. Trübſinn lag auf den Herzen der Vaterlandsfreunde und lähmte ihre Energie; in vergeblichen Mühen rieben ſich die edelſten Kräfte auf und das Unkraut der Zwietracht wucherte. Darum iſt König Wil¬ helm der Retter des Vaterlandes, und nicht eines einzelnen Siegs wegen iſt Er, einem römiſchen Feldherrn gleich, von ſeinen Legionen zum Imperator ausgerufen, ſondern was ſeit Jahrhunderten ſich im Stillen vorbereitet hat, was von pro¬ phetiſchen Blicken längſt geſchaut und zuletzt vom ganzen Volke als nothwendig erkannt war, das hat ſich endlich, da die Zeit erfüllet war, vor unſern Augen vollzogen. Alte Sagen erzählen uns von dem Blute der Helden, welches ſich in Blumen verwandelt, die in jedem Frühjahr das Gedächtniß der Todten erneuern. So iſt aus dem Blute, das unſere Krieger aus Nord und Süd in treuer Waffen¬ genoſſenſchaft vergoſſen haben, das edle Reis deutſcher Einheit erwachſen, ein köſtliches Gut, um theuern Preis erworben, das wir zu Ehren unſerer Brüder zu pflegen haben. Denn niemals iſt mit ernſterer Feier der Grundſtein eines Reiches gelegt, vollgültiger und rechtmäßiger keine Fürſtenwahl voll¬ zogen worden. Unſere Väter waren froh dieſen Tag zu ſehen und ſind im Glauben an ſeine Zukunft heimgegangen. Heute iſt er erſchienen. Heute iſt das deutſche Volk zum erſten Male wieder um ſeinen Kaiſer verſammelt, heute iſt ein Frühlings¬

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/362>, abgerufen am 23.11.2024.