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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Das Mittleramt der Philologie.
seiner ersten Schrift an die Küste von Attika stellt, um dort
das Meer von Aegina zu überschauen, so war es ihm Be¬
dürfniß, sich überall mit lebendiger Seele mitten in das Alter¬
thum zu versetzen, es als ein Ganzes aufzufassen und zu
durchdringen, überall Leben verbreitend, neue Gesichtspunkte
anregend, Fernliegendes glücklich verbindend. Für kein Men¬
schenleben hätte man geglaubt, mehr eine lange Dauer in
Anspruch nehmen zu dürfen, als für das seinige, dessen For¬
scherpläne so großartig angelegt waren. Zu seiner Thätigkeit
stand nach manchen Rücksichten die seines Nachfolgers in einem
Gegensatze, da das Bestreben desselben vorzüglich darauf zielte,
das Erkannte zu umfassen, die Ergebnisse der Wissenschaft zu
ordnen und festzustellen. Er gehört in die Reihe der großen
Conservatoren der Wissenschaft, welche aus tiefem und ernstem
Verlangen nach abgerundetem Wissen die Untersuchung an
bestimmte Zielpunkte zu führen und in fester Form abzu¬
schließen geneigt sind. Doch ist der Gegensatz zwischen Män¬
nern, wie Müller und Hermann, nur ein scheinbarer. Denn
in Wahrheit ist der Wissenschaft nichts heilsamer, förderlicher
und nothwendiger als ein solcher Wechsel von Bestrebungen,
von denen die einen mehr anregender, die andern mehr ab¬
schließender Natur sind, jene neue Saat auszustreuen, diese die
Ernte einzufahren beflissen sind.

Ein wirklicher Abschluß freilich wird nicht erreicht und
die vorwärts eilende Forschung sprengt immer von Neuem
die spröde Form der in Paragraphen geordneten Lehrsätze.
Diese Erfahrung darf uns nicht entmuthigen. Denn darin
liegt die Weihe der Wissenschaft, daß sie niemals fertig wird.
Darin unterscheidet sich unser Beruf von dem gewöhnlichen
Treiben der Welt, daß hier nach nahen, greifbaren Zielen
gejagt wird, während die Zielpunkte unserer Arbeit idealer
Natur sind und jenseit der Gegenwart, jenseit der eigenen
Lebensfrist liegen. Es ist eine selbstverläugnende und selbst¬
vergessende Thätigkeit, welche die Forschung von uns verlangt;
dadurch behütet sie uns vor jedem satten Wissensdünkel und
lehrt uns erkennen, daß nicht der volle Besitz der Wahrheit,

Das Mittleramt der Philologie.
ſeiner erſten Schrift an die Küſte von Attika ſtellt, um dort
das Meer von Aegina zu überſchauen, ſo war es ihm Be¬
dürfniß, ſich überall mit lebendiger Seele mitten in das Alter¬
thum zu verſetzen, es als ein Ganzes aufzufaſſen und zu
durchdringen, überall Leben verbreitend, neue Geſichtspunkte
anregend, Fernliegendes glücklich verbindend. Für kein Men¬
ſchenleben hätte man geglaubt, mehr eine lange Dauer in
Anſpruch nehmen zu dürfen, als für das ſeinige, deſſen For¬
ſcherpläne ſo großartig angelegt waren. Zu ſeiner Thätigkeit
ſtand nach manchen Rückſichten die ſeines Nachfolgers in einem
Gegenſatze, da das Beſtreben deſſelben vorzüglich darauf zielte,
das Erkannte zu umfaſſen, die Ergebniſſe der Wiſſenſchaft zu
ordnen und feſtzuſtellen. Er gehört in die Reihe der großen
Conſervatoren der Wiſſenſchaft, welche aus tiefem und ernſtem
Verlangen nach abgerundetem Wiſſen die Unterſuchung an
beſtimmte Zielpunkte zu führen und in feſter Form abzu¬
ſchließen geneigt ſind. Doch iſt der Gegenſatz zwiſchen Män¬
nern, wie Müller und Hermann, nur ein ſcheinbarer. Denn
in Wahrheit iſt der Wiſſenſchaft nichts heilſamer, förderlicher
und nothwendiger als ein ſolcher Wechſel von Beſtrebungen,
von denen die einen mehr anregender, die andern mehr ab¬
ſchließender Natur ſind, jene neue Saat auszuſtreuen, dieſe die
Ernte einzufahren befliſſen ſind.

Ein wirklicher Abſchluß freilich wird nicht erreicht und
die vorwärts eilende Forſchung ſprengt immer von Neuem
die ſpröde Form der in Paragraphen geordneten Lehrſätze.
Dieſe Erfahrung darf uns nicht entmuthigen. Denn darin
liegt die Weihe der Wiſſenſchaft, daß ſie niemals fertig wird.
Darin unterſcheidet ſich unſer Beruf von dem gewöhnlichen
Treiben der Welt, daß hier nach nahen, greifbaren Zielen
gejagt wird, während die Zielpunkte unſerer Arbeit idealer
Natur ſind und jenſeit der Gegenwart, jenſeit der eigenen
Lebensfriſt liegen. Es iſt eine ſelbſtverläugnende und ſelbſt¬
vergeſſende Thätigkeit, welche die Forſchung von uns verlangt;
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[20/0036] Das Mittleramt der Philologie. ſeiner erſten Schrift an die Küſte von Attika ſtellt, um dort das Meer von Aegina zu überſchauen, ſo war es ihm Be¬ dürfniß, ſich überall mit lebendiger Seele mitten in das Alter¬ thum zu verſetzen, es als ein Ganzes aufzufaſſen und zu durchdringen, überall Leben verbreitend, neue Geſichtspunkte anregend, Fernliegendes glücklich verbindend. Für kein Men¬ ſchenleben hätte man geglaubt, mehr eine lange Dauer in Anſpruch nehmen zu dürfen, als für das ſeinige, deſſen For¬ ſcherpläne ſo großartig angelegt waren. Zu ſeiner Thätigkeit ſtand nach manchen Rückſichten die ſeines Nachfolgers in einem Gegenſatze, da das Beſtreben deſſelben vorzüglich darauf zielte, das Erkannte zu umfaſſen, die Ergebniſſe der Wiſſenſchaft zu ordnen und feſtzuſtellen. Er gehört in die Reihe der großen Conſervatoren der Wiſſenſchaft, welche aus tiefem und ernſtem Verlangen nach abgerundetem Wiſſen die Unterſuchung an beſtimmte Zielpunkte zu führen und in feſter Form abzu¬ ſchließen geneigt ſind. Doch iſt der Gegenſatz zwiſchen Män¬ nern, wie Müller und Hermann, nur ein ſcheinbarer. Denn in Wahrheit iſt der Wiſſenſchaft nichts heilſamer, förderlicher und nothwendiger als ein ſolcher Wechſel von Beſtrebungen, von denen die einen mehr anregender, die andern mehr ab¬ ſchließender Natur ſind, jene neue Saat auszuſtreuen, dieſe die Ernte einzufahren befliſſen ſind. Ein wirklicher Abſchluß freilich wird nicht erreicht und die vorwärts eilende Forſchung ſprengt immer von Neuem die ſpröde Form der in Paragraphen geordneten Lehrſätze. Dieſe Erfahrung darf uns nicht entmuthigen. Denn darin liegt die Weihe der Wiſſenſchaft, daß ſie niemals fertig wird. Darin unterſcheidet ſich unſer Beruf von dem gewöhnlichen Treiben der Welt, daß hier nach nahen, greifbaren Zielen gejagt wird, während die Zielpunkte unſerer Arbeit idealer Natur ſind und jenſeit der Gegenwart, jenſeit der eigenen Lebensfriſt liegen. Es iſt eine ſelbſtverläugnende und ſelbſt¬ vergeſſende Thätigkeit, welche die Forſchung von uns verlangt; dadurch behütet ſie uns vor jedem ſatten Wiſſensdünkel und lehrt uns erkennen, daß nicht der volle Beſitz der Wahrheit,

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/36>, abgerufen am 27.11.2024.