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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Weihe des Siegs.
unübersteigliche Kluft anerkennen, welche die deutsche Nation,
die zur Tantalusqual eines ewig erfolglosen Ringens verur¬
theilte, von dem Ziel ihrer Wünsche trennte. So ist uns noch
immer zu Muthe wie Menschen, die aus dunkeln Wohnräumen
zum ersten Male an das Tageslicht kommen. Es wird uns
noch schwer, mit geblendeten Augen die volle Wirklichkeit dessen,
was wir erlebt haben, zu fassen, und unwillkürlich gedenkt
man der Worte, welche ein attischer Redner sagte, als das
Reich, das Jahrhunderte lang die gebietende Continentalmacht
gewesen war, zusammenbrach und alle Verständigen inne wur¬
den, daß man an einem Wendepunkte der Geschichte stehe.
"Was ist," sagte Aeschines nach der Schlacht von Arbela, "in
diesen Tagen nicht Alles wider Hoffen und Erwarten ge¬
schehen! Das ist kein gewöhnliches Menschenleben; wir wer¬
den auch kommenden Geschlechtern ein Wunder sein!"

Und nun der heutige Tag -- welch ein Tag! Unsers
Königs Geburtstag zum ersten Male der Geburtstag des
deutschen Kaisers, zum ersten Male ein Festtag für Deutsch¬
land und alle Deutschen um ein ehrwürdiges Haupt in Liebe
geeint! Der Tag redet, und alle Worte, welche zu seinen
Ehren laut werden, können nur einen Inhalt haben, nur
einen Klang, wie die Kirchenglocken, welche durch Städte und
Dörfer klingen, wie die Lieder, in denen sich gleichzeitig fern
und nah die Gemeinden zu einem Glauben bekennen. Wer
könnte und möchte heute Besonderes, Eigenes, Selbsterfundenes
geben! Sollen wir uns also aus dem unaussprechlichen Ge¬
fühle des Danks gegen Gott für die gnädige Bewahrung
unsers geliebten Königs und Seine glorreiche Heimkehr zu
einer Betrachtung sammeln, so kann der leitende Gedanke kein
anderer sein als der, welcher alle Herzen erwärmt und auf
Aller Lippen schwebt, es ist der Sieg, seine Weihe und seine
Bürgschaft.

Denn das ist klar; nicht jeder Sieg ist von gleichem
Werth und das bloße Niederwerfen des Feindes, das stolze
Gefühl, der Stärkere zu sein, kann es nicht sein, was den
Werth des Siegs bestimmt. Auch die Größe der bestandenen

Die Weihe des Siegs.
unüberſteigliche Kluft anerkennen, welche die deutſche Nation,
die zur Tantalusqual eines ewig erfolgloſen Ringens verur¬
theilte, von dem Ziel ihrer Wünſche trennte. So iſt uns noch
immer zu Muthe wie Menſchen, die aus dunkeln Wohnräumen
zum erſten Male an das Tageslicht kommen. Es wird uns
noch ſchwer, mit geblendeten Augen die volle Wirklichkeit deſſen,
was wir erlebt haben, zu faſſen, und unwillkürlich gedenkt
man der Worte, welche ein attiſcher Redner ſagte, als das
Reich, das Jahrhunderte lang die gebietende Continentalmacht
geweſen war, zuſammenbrach und alle Verſtändigen inne wur¬
den, daß man an einem Wendepunkte der Geſchichte ſtehe.
»Was iſt,« ſagte Aeſchines nach der Schlacht von Arbela, »in
dieſen Tagen nicht Alles wider Hoffen und Erwarten ge¬
ſchehen! Das iſt kein gewöhnliches Menſchenleben; wir wer¬
den auch kommenden Geſchlechtern ein Wunder ſein!«

Und nun der heutige Tag — welch ein Tag! Unſers
Königs Geburtstag zum erſten Male der Geburtstag des
deutſchen Kaiſers, zum erſten Male ein Feſttag für Deutſch¬
land und alle Deutſchen um ein ehrwürdiges Haupt in Liebe
geeint! Der Tag redet, und alle Worte, welche zu ſeinen
Ehren laut werden, können nur einen Inhalt haben, nur
einen Klang, wie die Kirchenglocken, welche durch Städte und
Dörfer klingen, wie die Lieder, in denen ſich gleichzeitig fern
und nah die Gemeinden zu einem Glauben bekennen. Wer
könnte und möchte heute Beſonderes, Eigenes, Selbſterfundenes
geben! Sollen wir uns alſo aus dem unausſprechlichen Ge¬
fühle des Danks gegen Gott für die gnädige Bewahrung
unſers geliebten Königs und Seine glorreiche Heimkehr zu
einer Betrachtung ſammeln, ſo kann der leitende Gedanke kein
anderer ſein als der, welcher alle Herzen erwärmt und auf
Aller Lippen ſchwebt, es iſt der Sieg, ſeine Weihe und ſeine
Bürgſchaft.

Denn das iſt klar; nicht jeder Sieg iſt von gleichem
Werth und das bloße Niederwerfen des Feindes, das ſtolze
Gefühl, der Stärkere zu ſein, kann es nicht ſein, was den
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[342/0358] Die Weihe des Siegs. unüberſteigliche Kluft anerkennen, welche die deutſche Nation, die zur Tantalusqual eines ewig erfolgloſen Ringens verur¬ theilte, von dem Ziel ihrer Wünſche trennte. So iſt uns noch immer zu Muthe wie Menſchen, die aus dunkeln Wohnräumen zum erſten Male an das Tageslicht kommen. Es wird uns noch ſchwer, mit geblendeten Augen die volle Wirklichkeit deſſen, was wir erlebt haben, zu faſſen, und unwillkürlich gedenkt man der Worte, welche ein attiſcher Redner ſagte, als das Reich, das Jahrhunderte lang die gebietende Continentalmacht geweſen war, zuſammenbrach und alle Verſtändigen inne wur¬ den, daß man an einem Wendepunkte der Geſchichte ſtehe. »Was iſt,« ſagte Aeſchines nach der Schlacht von Arbela, »in dieſen Tagen nicht Alles wider Hoffen und Erwarten ge¬ ſchehen! Das iſt kein gewöhnliches Menſchenleben; wir wer¬ den auch kommenden Geſchlechtern ein Wunder ſein!« Und nun der heutige Tag — welch ein Tag! Unſers Königs Geburtstag zum erſten Male der Geburtstag des deutſchen Kaiſers, zum erſten Male ein Feſttag für Deutſch¬ land und alle Deutſchen um ein ehrwürdiges Haupt in Liebe geeint! Der Tag redet, und alle Worte, welche zu ſeinen Ehren laut werden, können nur einen Inhalt haben, nur einen Klang, wie die Kirchenglocken, welche durch Städte und Dörfer klingen, wie die Lieder, in denen ſich gleichzeitig fern und nah die Gemeinden zu einem Glauben bekennen. Wer könnte und möchte heute Beſonderes, Eigenes, Selbſterfundenes geben! Sollen wir uns alſo aus dem unausſprechlichen Ge¬ fühle des Danks gegen Gott für die gnädige Bewahrung unſers geliebten Königs und Seine glorreiche Heimkehr zu einer Betrachtung ſammeln, ſo kann der leitende Gedanke kein anderer ſein als der, welcher alle Herzen erwärmt und auf Aller Lippen ſchwebt, es iſt der Sieg, ſeine Weihe und ſeine Bürgſchaft. Denn das iſt klar; nicht jeder Sieg iſt von gleichem Werth und das bloße Niederwerfen des Feindes, das ſtolze Gefühl, der Stärkere zu ſein, kann es nicht ſein, was den Werth des Siegs beſtimmt. Auch die Größe der beſtandenen

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/358>, abgerufen am 23.11.2024.