am liebsten in solche Abschnitte der Geschichte, in welchen alle besseren Volkskräfte nach einem Ziele streben. Wenn wir da¬ her berechtigt sind zwischen guten und schlechten Zeiten zu unterscheiden, so dürfen wir wohl diejenigen für die bevor¬ zugten halten, welche von einem großen und bewußten Berufe erfüllt sind.
Einen solchen Beruf hatte Athen, und zwar war es kein willkürlich gemachter und kein von ehrgeizigen Parteiführern ersonnener, sondern ein solcher, der sich aus der Vergangen¬ heit mit Nothwendigkeit ergab, den die Geschichte der Stadt und des Volks forderte, ein attischer zugleich und ein helle¬ nischer Beruf.
Eine fast unzählige Menge von Gemeinden hatte das hellenische Volk in seinen Gebirgsthälern und Küstenlandschaf¬ ten gegründet; in der Anlage einzelner Städte, im Ausbau scharf begränzter Cantonalstaaten war das Mögliche geleistet; denn auch außerhalb ihres engeren Land- und Seegebiets hatten die Hellenen kühn jeden Platz sich angeeignet, der ihren Handelszwecken entsprach; überall hatten sie mit überlegener Geisteskraft die Barbaren zurückgedrängt und an den fernsten Gestaden ihre Sprache, Sitte und Religion festgehalten. Jetzt war es an der Zeit die zerstreuten Kräfte zu sammeln und nach einer seit Jahrhunderten fortschreitenden Zersplitterung des Volks die Einheit desselben wieder zur Geltung zu bringen.
Einst war Delphi der Träger der griechischen Volksein¬ heit gewesen, aber es hatte längst seine Macht verloren und durch seine feige Haltung in den Freiheitskriegen jedes An¬ recht auf Oberleitung der hellenischen Angelegenheiten einge¬ büßt. Auch Sparta hatte seine Führerschaft verloren und zwar durch den schnöden Egoismus seiner Politik, durch die Schlechtigkeit seiner Heerführer und die gänzliche Unfähigkeit größere Unternehmungen zu leiten. Darum hatte sich in der Stunde der Noth das ganze jenseitige Hellas an Athen an¬ geschlossen, und niemals ist ein Staat auf eine gerechtere Weise zu einer Großmacht geworden; denn durch ihre Thaten hatten die Athener ein Nationalgefühl wieder geschaffen, und
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Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.
am liebſten in ſolche Abſchnitte der Geſchichte, in welchen alle beſſeren Volkskräfte nach einem Ziele ſtreben. Wenn wir da¬ her berechtigt ſind zwiſchen guten und ſchlechten Zeiten zu unterſcheiden, ſo dürfen wir wohl diejenigen für die bevor¬ zugten halten, welche von einem großen und bewußten Berufe erfüllt ſind.
Einen ſolchen Beruf hatte Athen, und zwar war es kein willkürlich gemachter und kein von ehrgeizigen Parteiführern erſonnener, ſondern ein ſolcher, der ſich aus der Vergangen¬ heit mit Nothwendigkeit ergab, den die Geſchichte der Stadt und des Volks forderte, ein attiſcher zugleich und ein helle¬ niſcher Beruf.
Eine faſt unzählige Menge von Gemeinden hatte das helleniſche Volk in ſeinen Gebirgsthälern und Küſtenlandſchaf¬ ten gegründet; in der Anlage einzelner Städte, im Ausbau ſcharf begränzter Cantonalſtaaten war das Mögliche geleiſtet; denn auch außerhalb ihres engeren Land- und Seegebiets hatten die Hellenen kühn jeden Platz ſich angeeignet, der ihren Handelszwecken entſprach; überall hatten ſie mit überlegener Geiſteskraft die Barbaren zurückgedrängt und an den fernſten Geſtaden ihre Sprache, Sitte und Religion feſtgehalten. Jetzt war es an der Zeit die zerſtreuten Kräfte zu ſammeln und nach einer ſeit Jahrhunderten fortſchreitenden Zerſplitterung des Volks die Einheit deſſelben wieder zur Geltung zu bringen.
Einſt war Delphi der Träger der griechiſchen Volksein¬ heit geweſen, aber es hatte längſt ſeine Macht verloren und durch ſeine feige Haltung in den Freiheitskriegen jedes An¬ recht auf Oberleitung der helleniſchen Angelegenheiten einge¬ büßt. Auch Sparta hatte ſeine Führerſchaft verloren und zwar durch den ſchnöden Egoismus ſeiner Politik, durch die Schlechtigkeit ſeiner Heerführer und die gänzliche Unfähigkeit größere Unternehmungen zu leiten. Darum hatte ſich in der Stunde der Noth das ganze jenſeitige Hellas an Athen an¬ geſchloſſen, und niemals iſt ein Staat auf eine gerechtere Weiſe zu einer Großmacht geworden; denn durch ihre Thaten hatten die Athener ein Nationalgefühl wieder geſchaffen, und
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Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.
am liebſten in ſolche Abſchnitte der Geſchichte, in welchen alle
beſſeren Volkskräfte nach einem Ziele ſtreben. Wenn wir da¬
her berechtigt ſind zwiſchen guten und ſchlechten Zeiten zu
unterſcheiden, ſo dürfen wir wohl diejenigen für die bevor¬
zugten halten, welche von einem großen und bewußten Berufe
erfüllt ſind.
Einen ſolchen Beruf hatte Athen, und zwar war es kein
willkürlich gemachter und kein von ehrgeizigen Parteiführern
erſonnener, ſondern ein ſolcher, der ſich aus der Vergangen¬
heit mit Nothwendigkeit ergab, den die Geſchichte der Stadt
und des Volks forderte, ein attiſcher zugleich und ein helle¬
niſcher Beruf.
Eine faſt unzählige Menge von Gemeinden hatte das
helleniſche Volk in ſeinen Gebirgsthälern und Küſtenlandſchaf¬
ten gegründet; in der Anlage einzelner Städte, im Ausbau
ſcharf begränzter Cantonalſtaaten war das Mögliche geleiſtet;
denn auch außerhalb ihres engeren Land- und Seegebiets
hatten die Hellenen kühn jeden Platz ſich angeeignet, der ihren
Handelszwecken entſprach; überall hatten ſie mit überlegener
Geiſteskraft die Barbaren zurückgedrängt und an den fernſten
Geſtaden ihre Sprache, Sitte und Religion feſtgehalten. Jetzt
war es an der Zeit die zerſtreuten Kräfte zu ſammeln und
nach einer ſeit Jahrhunderten fortſchreitenden Zerſplitterung
des Volks die Einheit deſſelben wieder zur Geltung zu bringen.
Einſt war Delphi der Träger der griechiſchen Volksein¬
heit geweſen, aber es hatte längſt ſeine Macht verloren und
durch ſeine feige Haltung in den Freiheitskriegen jedes An¬
recht auf Oberleitung der helleniſchen Angelegenheiten einge¬
büßt. Auch Sparta hatte ſeine Führerſchaft verloren und
zwar durch den ſchnöden Egoismus ſeiner Politik, durch die
Schlechtigkeit ſeiner Heerführer und die gänzliche Unfähigkeit
größere Unternehmungen zu leiten. Darum hatte ſich in der
Stunde der Noth das ganze jenſeitige Hellas an Athen an¬
geſchloſſen, und niemals iſt ein Staat auf eine gerechtere
Weiſe zu einer Großmacht geworden; denn durch ihre Thaten
hatten die Athener ein Nationalgefühl wieder geſchaffen, und
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/323>, abgerufen am 22.07.2024.
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