Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Philosophie und Geschichte.
schung drang und in mühevoller, selbstverläugnender Stoffarbeit
mit glänzendem Beispiel voranging.

Doch konnte ein Geist wie der seinige sich nicht mit Ge¬
schichte beschäftigen, ohne daß man den Philosophen erkannte,
der auch in der Einzelforschung den Blick für das Ganze und
Große nicht verläugnete. Er fand auch hier neue Methoden,
die erst von nachgeborenen Geschlechtern ausgebeutet wurden,
wie seine Hinweisung auf die Sprachen als Urkunden des
Menschengeschlechts zeigt. Er betonte die culturgeschichtlichen
Seiten des Völkerlebens, Recht, Sitte und Religion, was in
einer Zeit, wo die Fürstenhöfe als ausschließliche Mittelpunkte
der Geschichte angesehen wurden, doppelt wichtig war. Er
ging mit seinem Blick von den Annalen eines Geschlechts auf
die Weltgeschichte über, und wenn er Gedanken aussprach,
wie sie in dem Satze enthalten sind: le present est charge du
passe et gros de l'avenir
, so waren dies damals neue Ge¬
sichtspunkte.

Die Idee der Entwickelung war der Geschichte fremd ge¬
blieben. Man begnügte sich entweder mit trockner Stoffsamm¬
lung und äußerlicher Aufreihung des Ueberlieferten, oder man
stellte die Geschichte unter den Einfluß fremdartiger Gesichts¬
punkte, welche von den Anfängen christlicher Wissenschaft her
maßgebend geblieben waren, indem man an die biblische Ueber¬
lieferung anknüpfte und nach den Monarchien im Buche Daniel
die Staaten der alten Welt behandelte, wie Melanchthon that
und Bossuet.

Zur Befreiung der Geschichte und zur Vergeistigung ihrer
Aufgabe wirkte nun in Leibnizens Sinne vor Allen Herder,
indem er, ein Feind jedes systematischen Zwangs, die Masse
des geschichtlichen Stoffs nach allen Seiten hin mit philoso¬
phischen Gedanken durchdrang, Natur- und Menschengeschichte
im Zusammenhange erfaßte, dem Menschengeiste auf allen
Spuren seiner Wirksamkeit folgte und zum ersten Male physio¬
logische Gesetze in der moralischen Welt zur Anwendung brachte.
Leibniz hatte nur auf dem engsten Gebiete heimischer Staats¬
geschichte gearbeitet und nur gelegentlich in die allgemeine

Philoſophie und Geſchichte.
ſchung drang und in mühevoller, ſelbſtverläugnender Stoffarbeit
mit glänzendem Beiſpiel voranging.

Doch konnte ein Geiſt wie der ſeinige ſich nicht mit Ge¬
ſchichte beſchäftigen, ohne daß man den Philoſophen erkannte,
der auch in der Einzelforſchung den Blick für das Ganze und
Große nicht verläugnete. Er fand auch hier neue Methoden,
die erſt von nachgeborenen Geſchlechtern ausgebeutet wurden,
wie ſeine Hinweiſung auf die Sprachen als Urkunden des
Menſchengeſchlechts zeigt. Er betonte die culturgeſchichtlichen
Seiten des Völkerlebens, Recht, Sitte und Religion, was in
einer Zeit, wo die Fürſtenhöfe als ausſchließliche Mittelpunkte
der Geſchichte angeſehen wurden, doppelt wichtig war. Er
ging mit ſeinem Blick von den Annalen eines Geſchlechts auf
die Weltgeſchichte über, und wenn er Gedanken ausſprach,
wie ſie in dem Satze enthalten ſind: le présent est chargé du
passé et gros de l'avenir
, ſo waren dies damals neue Ge¬
ſichtspunkte.

Die Idee der Entwickelung war der Geſchichte fremd ge¬
blieben. Man begnügte ſich entweder mit trockner Stoffſamm¬
lung und äußerlicher Aufreihung des Ueberlieferten, oder man
ſtellte die Geſchichte unter den Einfluß fremdartiger Geſichts¬
punkte, welche von den Anfängen chriſtlicher Wiſſenſchaft her
maßgebend geblieben waren, indem man an die bibliſche Ueber¬
lieferung anknüpfte und nach den Monarchien im Buche Daniel
die Staaten der alten Welt behandelte, wie Melanchthon that
und Boſſuet.

Zur Befreiung der Geſchichte und zur Vergeiſtigung ihrer
Aufgabe wirkte nun in Leibnizens Sinne vor Allen Herder,
indem er, ein Feind jedes ſyſtematiſchen Zwangs, die Maſſe
des geſchichtlichen Stoffs nach allen Seiten hin mit philoſo¬
phiſchen Gedanken durchdrang, Natur- und Menſchengeſchichte
im Zuſammenhange erfaßte, dem Menſchengeiſte auf allen
Spuren ſeiner Wirkſamkeit folgte und zum erſten Male phyſio¬
logiſche Geſetze in der moraliſchen Welt zur Anwendung brachte.
Leibniz hatte nur auf dem engſten Gebiete heimiſcher Staats¬
geſchichte gearbeitet und nur gelegentlich in die allgemeine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0309" n="293"/><fw place="top" type="header">Philo&#x017F;ophie und Ge&#x017F;chichte.<lb/></fw> &#x017F;chung drang und in mühevoller, &#x017F;elb&#x017F;tverläugnender Stoffarbeit<lb/>
mit glänzendem Bei&#x017F;piel voranging.</p><lb/>
        <p>Doch konnte ein Gei&#x017F;t wie der &#x017F;einige &#x017F;ich nicht mit Ge¬<lb/>
&#x017F;chichte be&#x017F;chäftigen, ohne daß man den Philo&#x017F;ophen erkannte,<lb/>
der auch in der Einzelfor&#x017F;chung den Blick für das Ganze und<lb/>
Große nicht verläugnete. Er fand auch hier neue Methoden,<lb/>
die er&#x017F;t von nachgeborenen Ge&#x017F;chlechtern ausgebeutet wurden,<lb/>
wie &#x017F;eine Hinwei&#x017F;ung auf die Sprachen als Urkunden des<lb/>
Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechts zeigt. Er betonte die culturge&#x017F;chichtlichen<lb/>
Seiten des Völkerlebens, Recht, Sitte und Religion, was in<lb/>
einer Zeit, wo die Für&#x017F;tenhöfe als aus&#x017F;chließliche Mittelpunkte<lb/>
der Ge&#x017F;chichte ange&#x017F;ehen wurden, doppelt wichtig war. Er<lb/>
ging mit &#x017F;einem Blick von den Annalen eines Ge&#x017F;chlechts auf<lb/>
die Weltge&#x017F;chichte über, und wenn er Gedanken aus&#x017F;prach,<lb/>
wie &#x017F;ie in dem Satze enthalten &#x017F;ind: <hi rendition="#aq">le présent est chargé du<lb/>
passé et gros de l'avenir</hi>, &#x017F;o waren dies damals neue Ge¬<lb/>
&#x017F;ichtspunkte.</p><lb/>
        <p>Die Idee der Entwickelung war der Ge&#x017F;chichte fremd ge¬<lb/>
blieben. Man begnügte &#x017F;ich entweder mit trockner Stoff&#x017F;amm¬<lb/>
lung und äußerlicher Aufreihung des Ueberlieferten, oder man<lb/>
&#x017F;tellte die Ge&#x017F;chichte unter den Einfluß fremdartiger Ge&#x017F;ichts¬<lb/>
punkte, welche von den Anfängen chri&#x017F;tlicher Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft her<lb/>
maßgebend geblieben waren, indem man an die bibli&#x017F;che Ueber¬<lb/>
lieferung anknüpfte und nach den Monarchien im Buche Daniel<lb/>
die Staaten der alten Welt behandelte, wie Melanchthon that<lb/>
und Bo&#x017F;&#x017F;uet.</p><lb/>
        <p>Zur Befreiung der Ge&#x017F;chichte und zur Vergei&#x017F;tigung ihrer<lb/>
Aufgabe wirkte nun in Leibnizens Sinne vor Allen Herder,<lb/>
indem er, ein Feind jedes &#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;chen Zwangs, die Ma&#x017F;&#x017F;e<lb/>
des ge&#x017F;chichtlichen Stoffs nach allen Seiten hin mit philo&#x017F;<lb/>
phi&#x017F;chen Gedanken durchdrang, Natur- und Men&#x017F;chenge&#x017F;chichte<lb/>
im Zu&#x017F;ammenhange erfaßte, dem Men&#x017F;chengei&#x017F;te auf allen<lb/>
Spuren &#x017F;einer Wirk&#x017F;amkeit folgte und zum er&#x017F;ten Male phy&#x017F;io¬<lb/>
logi&#x017F;che Ge&#x017F;etze in der morali&#x017F;chen Welt zur Anwendung brachte.<lb/>
Leibniz hatte nur auf dem eng&#x017F;ten Gebiete heimi&#x017F;cher Staats¬<lb/>
ge&#x017F;chichte gearbeitet und nur gelegentlich in die allgemeine<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[293/0309] Philoſophie und Geſchichte. ſchung drang und in mühevoller, ſelbſtverläugnender Stoffarbeit mit glänzendem Beiſpiel voranging. Doch konnte ein Geiſt wie der ſeinige ſich nicht mit Ge¬ ſchichte beſchäftigen, ohne daß man den Philoſophen erkannte, der auch in der Einzelforſchung den Blick für das Ganze und Große nicht verläugnete. Er fand auch hier neue Methoden, die erſt von nachgeborenen Geſchlechtern ausgebeutet wurden, wie ſeine Hinweiſung auf die Sprachen als Urkunden des Menſchengeſchlechts zeigt. Er betonte die culturgeſchichtlichen Seiten des Völkerlebens, Recht, Sitte und Religion, was in einer Zeit, wo die Fürſtenhöfe als ausſchließliche Mittelpunkte der Geſchichte angeſehen wurden, doppelt wichtig war. Er ging mit ſeinem Blick von den Annalen eines Geſchlechts auf die Weltgeſchichte über, und wenn er Gedanken ausſprach, wie ſie in dem Satze enthalten ſind: le présent est chargé du passé et gros de l'avenir, ſo waren dies damals neue Ge¬ ſichtspunkte. Die Idee der Entwickelung war der Geſchichte fremd ge¬ blieben. Man begnügte ſich entweder mit trockner Stoffſamm¬ lung und äußerlicher Aufreihung des Ueberlieferten, oder man ſtellte die Geſchichte unter den Einfluß fremdartiger Geſichts¬ punkte, welche von den Anfängen chriſtlicher Wiſſenſchaft her maßgebend geblieben waren, indem man an die bibliſche Ueber¬ lieferung anknüpfte und nach den Monarchien im Buche Daniel die Staaten der alten Welt behandelte, wie Melanchthon that und Boſſuet. Zur Befreiung der Geſchichte und zur Vergeiſtigung ihrer Aufgabe wirkte nun in Leibnizens Sinne vor Allen Herder, indem er, ein Feind jedes ſyſtematiſchen Zwangs, die Maſſe des geſchichtlichen Stoffs nach allen Seiten hin mit philoſo¬ phiſchen Gedanken durchdrang, Natur- und Menſchengeſchichte im Zuſammenhange erfaßte, dem Menſchengeiſte auf allen Spuren ſeiner Wirkſamkeit folgte und zum erſten Male phyſio¬ logiſche Geſetze in der moraliſchen Welt zur Anwendung brachte. Leibniz hatte nur auf dem engſten Gebiete heimiſcher Staats¬ geſchichte gearbeitet und nur gelegentlich in die allgemeine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/309
Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/309>, abgerufen am 23.11.2024.