Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Mittleramt der Philologie.
matikers die Zahl erfaßt hat, wo sie in Leben, Kunst und
Wissenschaft eine maßgebende Bedeutung hatte, daß er Maß
und Gewicht den Alten nachgewogen und nachgerechnet und
so eine völkerverbindende Kette, welche vom Euphrat bis zum
Tiber reicht, wieder hergestellt hat?

So reich belohnt die Philologie den, welcher mit edler
Geisteskraft neue Hülfsquellen der Forschung ihr eröffnet;
denn so reich sie in sich ist, so kann sie doch ihrer Natur nach
den anregenden Verkehr mit anderen Wissenschaften nicht ent¬
behren. Im Gefühle dieser Bedürftigkeit erhält sie sich frisch
und lebendig; dieser Austausch ist die Bürgschaft ihres Fort¬
schritts, die Quelle ihres Reichthums. Es ist ein Reichthum,
welcher nicht zur Selbstüberschätzung und zum Wissensdünkel
führen kann. Denn je freier der Umblick, je höher die Gesichts¬
punkte, je umfassender die Forschung, um so mehr wird sie zu
dem Geständnisse genöthigt:

Unser Wissen ist nichts; wir horchen allein dem Gerüchte.

Der Hochmuth des Wissens ist vielmehr dort zu Hause, wo
eine beschränkte, einseitige und engherzige Richtung vorherrscht.

Aber auch in sich selbst enthält die Philologie Manches,
was ihr die Fähigkeit und den Beruf giebt, zwischen den ver¬
schiedenen Zweigen der Gelehrsamkeit ein verbindendes Glied
zu sein. Ich denke zunächst an den Gegensatz zwischen Ge¬
schichte und Naturkunde, d. h. zwischen dem Gebiete mensch¬
licher Freiheit und dem der natürlichen Nothwendigkeit. Freilich
sind es auch im Alterthume freie und sittliche Mächte, welche
die Welt bewegen. Aber dennoch, wer will es leugnen, daß
hier die Geschichte viel mehr Verwandtschaft mit einem natür¬
lichen Prozesse hat? Denn erstens liegen hier die Entwicke¬
lungen geschlossen vor, und wir können die Gesetze nachweisen,
nach denen die Völker groß geworden und wieder zurück¬
gegangen sind. Und dann war die ganze alte Welt mehr
dem natürlichen Leben hingegeben, und erst nachdem sie ihr
Leben vollendet hatte, ein Volk nach dem andern, und mit
dem großen Reichscensus unter Kaiser Augustus das indivi¬
duelle Leben der einzelnen Völker gleichsam officiell aufgehoben

Das Mittleramt der Philologie.
matikers die Zahl erfaßt hat, wo ſie in Leben, Kunſt und
Wiſſenſchaft eine maßgebende Bedeutung hatte, daß er Maß
und Gewicht den Alten nachgewogen und nachgerechnet und
ſo eine völkerverbindende Kette, welche vom Euphrat bis zum
Tiber reicht, wieder hergeſtellt hat?

So reich belohnt die Philologie den, welcher mit edler
Geiſteskraft neue Hülfsquellen der Forſchung ihr eröffnet;
denn ſo reich ſie in ſich iſt, ſo kann ſie doch ihrer Natur nach
den anregenden Verkehr mit anderen Wiſſenſchaften nicht ent¬
behren. Im Gefühle dieſer Bedürftigkeit erhält ſie ſich friſch
und lebendig; dieſer Austauſch iſt die Bürgſchaft ihres Fort¬
ſchritts, die Quelle ihres Reichthums. Es iſt ein Reichthum,
welcher nicht zur Selbſtüberſchätzung und zum Wiſſensdünkel
führen kann. Denn je freier der Umblick, je höher die Geſichts¬
punkte, je umfaſſender die Forſchung, um ſo mehr wird ſie zu
dem Geſtändniſſe genöthigt:

Unſer Wiſſen iſt nichts; wir horchen allein dem Gerüchte.

Der Hochmuth des Wiſſens iſt vielmehr dort zu Hauſe, wo
eine beſchränkte, einſeitige und engherzige Richtung vorherrſcht.

Aber auch in ſich ſelbſt enthält die Philologie Manches,
was ihr die Fähigkeit und den Beruf giebt, zwiſchen den ver¬
ſchiedenen Zweigen der Gelehrſamkeit ein verbindendes Glied
zu ſein. Ich denke zunächſt an den Gegenſatz zwiſchen Ge¬
ſchichte und Naturkunde, d. h. zwiſchen dem Gebiete menſch¬
licher Freiheit und dem der natürlichen Nothwendigkeit. Freilich
ſind es auch im Alterthume freie und ſittliche Mächte, welche
die Welt bewegen. Aber dennoch, wer will es leugnen, daß
hier die Geſchichte viel mehr Verwandtſchaft mit einem natür¬
lichen Prozeſſe hat? Denn erſtens liegen hier die Entwicke¬
lungen geſchloſſen vor, und wir können die Geſetze nachweiſen,
nach denen die Völker groß geworden und wieder zurück¬
gegangen ſind. Und dann war die ganze alte Welt mehr
dem natürlichen Leben hingegeben, und erſt nachdem ſie ihr
Leben vollendet hatte, ein Volk nach dem andern, und mit
dem großen Reichscenſus unter Kaiſer Auguſtus das indivi¬
duelle Leben der einzelnen Völker gleichſam officiell aufgehoben

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0029" n="13"/><fw place="top" type="header">Das Mittleramt der Philologie.<lb/></fw> matikers die Zahl erfaßt hat, wo &#x017F;ie in Leben, Kun&#x017F;t und<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft eine maßgebende Bedeutung hatte, daß er Maß<lb/>
und Gewicht den Alten nachgewogen und nachgerechnet und<lb/>
&#x017F;o eine völkerverbindende Kette, welche vom Euphrat bis zum<lb/>
Tiber reicht, wieder herge&#x017F;tellt hat?</p><lb/>
        <p>So reich belohnt die Philologie den, welcher mit edler<lb/>
Gei&#x017F;teskraft neue Hülfsquellen der For&#x017F;chung ihr eröffnet;<lb/>
denn &#x017F;o reich &#x017F;ie in &#x017F;ich i&#x017F;t, &#x017F;o kann &#x017F;ie doch ihrer Natur nach<lb/>
den anregenden Verkehr mit anderen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften nicht ent¬<lb/>
behren. Im Gefühle die&#x017F;er Bedürftigkeit erhält &#x017F;ie &#x017F;ich fri&#x017F;ch<lb/>
und lebendig; die&#x017F;er Austau&#x017F;ch i&#x017F;t die Bürg&#x017F;chaft ihres Fort¬<lb/>
&#x017F;chritts, die Quelle ihres Reichthums. Es i&#x017F;t ein Reichthum,<lb/>
welcher nicht zur Selb&#x017F;tüber&#x017F;chätzung und zum Wi&#x017F;&#x017F;ensdünkel<lb/>
führen kann. Denn je freier der Umblick, je höher die Ge&#x017F;ichts¬<lb/>
punkte, je umfa&#x017F;&#x017F;ender die For&#x017F;chung, um &#x017F;o mehr wird &#x017F;ie zu<lb/>
dem Ge&#x017F;tändni&#x017F;&#x017F;e genöthigt:</p><lb/>
        <p>Un&#x017F;er Wi&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t nichts; wir horchen allein dem Gerüchte.</p><lb/>
        <p>Der Hochmuth des Wi&#x017F;&#x017F;ens i&#x017F;t vielmehr dort zu Hau&#x017F;e, wo<lb/>
eine be&#x017F;chränkte, ein&#x017F;eitige und engherzige Richtung vorherr&#x017F;cht.</p><lb/>
        <p>Aber auch in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t enthält die Philologie Manches,<lb/>
was ihr die Fähigkeit und den Beruf giebt, zwi&#x017F;chen den ver¬<lb/>
&#x017F;chiedenen Zweigen der Gelehr&#x017F;amkeit ein verbindendes Glied<lb/>
zu &#x017F;ein. Ich denke zunäch&#x017F;t an den Gegen&#x017F;atz zwi&#x017F;chen Ge¬<lb/>
&#x017F;chichte und Naturkunde, d. h. zwi&#x017F;chen dem Gebiete men&#x017F;ch¬<lb/>
licher Freiheit und dem der natürlichen Nothwendigkeit. Freilich<lb/>
&#x017F;ind es auch im Alterthume freie und &#x017F;ittliche Mächte, welche<lb/>
die Welt bewegen. Aber dennoch, wer will es leugnen, daß<lb/>
hier die Ge&#x017F;chichte viel mehr Verwandt&#x017F;chaft mit einem natür¬<lb/>
lichen Proze&#x017F;&#x017F;e hat? Denn er&#x017F;tens liegen hier die Entwicke¬<lb/>
lungen ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en vor, und wir können die Ge&#x017F;etze nachwei&#x017F;en,<lb/>
nach denen die Völker groß geworden und wieder zurück¬<lb/>
gegangen &#x017F;ind. Und dann war die ganze alte Welt mehr<lb/>
dem natürlichen Leben hingegeben, und er&#x017F;t nachdem &#x017F;ie ihr<lb/>
Leben vollendet hatte, ein Volk nach dem andern, und mit<lb/>
dem großen Reichscen&#x017F;us unter Kai&#x017F;er Augu&#x017F;tus das indivi¬<lb/>
duelle Leben der einzelnen Völker gleich&#x017F;am officiell aufgehoben<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[13/0029] Das Mittleramt der Philologie. matikers die Zahl erfaßt hat, wo ſie in Leben, Kunſt und Wiſſenſchaft eine maßgebende Bedeutung hatte, daß er Maß und Gewicht den Alten nachgewogen und nachgerechnet und ſo eine völkerverbindende Kette, welche vom Euphrat bis zum Tiber reicht, wieder hergeſtellt hat? So reich belohnt die Philologie den, welcher mit edler Geiſteskraft neue Hülfsquellen der Forſchung ihr eröffnet; denn ſo reich ſie in ſich iſt, ſo kann ſie doch ihrer Natur nach den anregenden Verkehr mit anderen Wiſſenſchaften nicht ent¬ behren. Im Gefühle dieſer Bedürftigkeit erhält ſie ſich friſch und lebendig; dieſer Austauſch iſt die Bürgſchaft ihres Fort¬ ſchritts, die Quelle ihres Reichthums. Es iſt ein Reichthum, welcher nicht zur Selbſtüberſchätzung und zum Wiſſensdünkel führen kann. Denn je freier der Umblick, je höher die Geſichts¬ punkte, je umfaſſender die Forſchung, um ſo mehr wird ſie zu dem Geſtändniſſe genöthigt: Unſer Wiſſen iſt nichts; wir horchen allein dem Gerüchte. Der Hochmuth des Wiſſens iſt vielmehr dort zu Hauſe, wo eine beſchränkte, einſeitige und engherzige Richtung vorherrſcht. Aber auch in ſich ſelbſt enthält die Philologie Manches, was ihr die Fähigkeit und den Beruf giebt, zwiſchen den ver¬ ſchiedenen Zweigen der Gelehrſamkeit ein verbindendes Glied zu ſein. Ich denke zunächſt an den Gegenſatz zwiſchen Ge¬ ſchichte und Naturkunde, d. h. zwiſchen dem Gebiete menſch¬ licher Freiheit und dem der natürlichen Nothwendigkeit. Freilich ſind es auch im Alterthume freie und ſittliche Mächte, welche die Welt bewegen. Aber dennoch, wer will es leugnen, daß hier die Geſchichte viel mehr Verwandtſchaft mit einem natür¬ lichen Prozeſſe hat? Denn erſtens liegen hier die Entwicke¬ lungen geſchloſſen vor, und wir können die Geſetze nachweiſen, nach denen die Völker groß geworden und wieder zurück¬ gegangen ſind. Und dann war die ganze alte Welt mehr dem natürlichen Leben hingegeben, und erſt nachdem ſie ihr Leben vollendet hatte, ein Volk nach dem andern, und mit dem großen Reichscenſus unter Kaiſer Auguſtus das indivi¬ duelle Leben der einzelnen Völker gleichſam officiell aufgehoben

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/29
Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/29>, abgerufen am 27.11.2024.