Kein Volk hat sich diesen Segen so angeeignet, wie das deutsche, und seine bedeutendsten Thaten auf dem Gebiete der geistigen Entwickelung, die That der Reformation wie die Voll¬ endung seiner nationalen Litteratur, beruhen auf der Befruch¬ tung, welche der deutsche Geist aus dem Alterthume gewonnen hat. Der Geist des Alterthums ist eine Macht der Gegen¬ wart, eine überall nahe und einflußreiche Wir ahnen es selbst kaum, wie die Perioden, in denen wir denken und schreiben, die Bilder der Sprache, die wir anwenden, wie der Maßstab unserer Beurtheilung geistiger Erzeugnisse, wie die Formen der Gebäude und Gefäße, wie Kunst und Handwerk unter dem Einflusse jenes Geistes stehen. So ist es allmählich dahin gekommen, daß kein Theil der Menschengeschichte uns näher und innerlich verwandter ist, als das klassische Alterthum.
Diesen Zusammenhang zu erweisen ist auf einer deutschen Universität am wenigsten nöthig, weil hier bei den Lehrern wie bei den Jüngern der Wissenschaft die klassische Bildung der gemeinsame Boden ist, auf welchem sie Alle stehen. Aber sie wird nicht nur als die nothwendige Vorbedingung aller Gelehrsamkeit vorausgesetzt, um dann bei Seite gelegt zu werden, sondern es werden fast in allen Fächern die Gelehrten durch eigene Forschung in das Alterthum zurückgeführt, wo alle Wissenschaft zu Hause ist.
Selbst die Theologie kann das heidnische Alterthum nicht verabsäumen, wenn sie, wie es ihre Aufgabe sein muß, die Entwickelung des religiösen Bewußtseins im ganzen Verlaufe der Menschengeschichte zu verfolgen sucht. Hat man doch längst der oberflächlichen Ansicht entsagt, nach welcher die alten Völker sich gleichgültig gegen das Göttliche verhalten haben sollen, nach welcher ihre Götter nur Spielzeuge der Phantasie und die mächtigste Kraft, welche eine Menschenbrust beseelen kann, die des religiösen Glaubens, ihnen fremd gewesen sein soll. Die Gegensätze im Gottesbewußtsein sind auch in der alten Welt das bewegende Princip der Geschichte gewesen; sie sind es, um deren willen die Völker auseinander gegangen sind und die Sprachen sich gespalten haben. Auch im heidnischen
Das Mittleramt der Philologie.
Kein Volk hat ſich dieſen Segen ſo angeeignet, wie das deutſche, und ſeine bedeutendſten Thaten auf dem Gebiete der geiſtigen Entwickelung, die That der Reformation wie die Voll¬ endung ſeiner nationalen Litteratur, beruhen auf der Befruch¬ tung, welche der deutſche Geiſt aus dem Alterthume gewonnen hat. Der Geiſt des Alterthums iſt eine Macht der Gegen¬ wart, eine überall nahe und einflußreiche Wir ahnen es ſelbſt kaum, wie die Perioden, in denen wir denken und ſchreiben, die Bilder der Sprache, die wir anwenden, wie der Maßſtab unſerer Beurtheilung geiſtiger Erzeugniſſe, wie die Formen der Gebäude und Gefäße, wie Kunſt und Handwerk unter dem Einfluſſe jenes Geiſtes ſtehen. So iſt es allmählich dahin gekommen, daß kein Theil der Menſchengeſchichte uns näher und innerlich verwandter iſt, als das klaſſiſche Alterthum.
Dieſen Zuſammenhang zu erweiſen iſt auf einer deutſchen Univerſität am wenigſten nöthig, weil hier bei den Lehrern wie bei den Jüngern der Wiſſenſchaft die klaſſiſche Bildung der gemeinſame Boden iſt, auf welchem ſie Alle ſtehen. Aber ſie wird nicht nur als die nothwendige Vorbedingung aller Gelehrſamkeit vorausgeſetzt, um dann bei Seite gelegt zu werden, ſondern es werden faſt in allen Fächern die Gelehrten durch eigene Forſchung in das Alterthum zurückgeführt, wo alle Wiſſenſchaft zu Hauſe iſt.
Selbſt die Theologie kann das heidniſche Alterthum nicht verabſäumen, wenn ſie, wie es ihre Aufgabe ſein muß, die Entwickelung des religiöſen Bewußtſeins im ganzen Verlaufe der Menſchengeſchichte zu verfolgen ſucht. Hat man doch längſt der oberflächlichen Anſicht entſagt, nach welcher die alten Völker ſich gleichgültig gegen das Göttliche verhalten haben ſollen, nach welcher ihre Götter nur Spielzeuge der Phantaſie und die mächtigſte Kraft, welche eine Menſchenbruſt beſeelen kann, die des religiöſen Glaubens, ihnen fremd geweſen ſein ſoll. Die Gegenſätze im Gottesbewußtſein ſind auch in der alten Welt das bewegende Princip der Geſchichte geweſen; ſie ſind es, um deren willen die Völker auseinander gegangen ſind und die Sprachen ſich geſpalten haben. Auch im heidniſchen
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Das Mittleramt der Philologie.
Kein Volk hat ſich dieſen Segen ſo angeeignet, wie das
deutſche, und ſeine bedeutendſten Thaten auf dem Gebiete der
geiſtigen Entwickelung, die That der Reformation wie die Voll¬
endung ſeiner nationalen Litteratur, beruhen auf der Befruch¬
tung, welche der deutſche Geiſt aus dem Alterthume gewonnen
hat. Der Geiſt des Alterthums iſt eine Macht der Gegen¬
wart, eine überall nahe und einflußreiche Wir ahnen es ſelbſt
kaum, wie die Perioden, in denen wir denken und ſchreiben,
die Bilder der Sprache, die wir anwenden, wie der Maßſtab
unſerer Beurtheilung geiſtiger Erzeugniſſe, wie die Formen
der Gebäude und Gefäße, wie Kunſt und Handwerk unter dem
Einfluſſe jenes Geiſtes ſtehen. So iſt es allmählich dahin
gekommen, daß kein Theil der Menſchengeſchichte uns näher
und innerlich verwandter iſt, als das klaſſiſche Alterthum.
Dieſen Zuſammenhang zu erweiſen iſt auf einer deutſchen
Univerſität am wenigſten nöthig, weil hier bei den Lehrern
wie bei den Jüngern der Wiſſenſchaft die klaſſiſche Bildung
der gemeinſame Boden iſt, auf welchem ſie Alle ſtehen. Aber
ſie wird nicht nur als die nothwendige Vorbedingung aller
Gelehrſamkeit vorausgeſetzt, um dann bei Seite gelegt zu
werden, ſondern es werden faſt in allen Fächern die Gelehrten
durch eigene Forſchung in das Alterthum zurückgeführt, wo
alle Wiſſenſchaft zu Hauſe iſt.
Selbſt die Theologie kann das heidniſche Alterthum nicht
verabſäumen, wenn ſie, wie es ihre Aufgabe ſein muß, die
Entwickelung des religiöſen Bewußtſeins im ganzen Verlaufe
der Menſchengeſchichte zu verfolgen ſucht. Hat man doch längſt
der oberflächlichen Anſicht entſagt, nach welcher die alten Völker
ſich gleichgültig gegen das Göttliche verhalten haben ſollen,
nach welcher ihre Götter nur Spielzeuge der Phantaſie und
die mächtigſte Kraft, welche eine Menſchenbruſt beſeelen kann,
die des religiöſen Glaubens, ihnen fremd geweſen ſein ſoll.
Die Gegenſätze im Gottesbewußtſein ſind auch in der alten
Welt das bewegende Princip der Geſchichte geweſen; ſie ſind
es, um deren willen die Völker auseinander gegangen ſind
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/25>, abgerufen am 24.11.2024.
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