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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Idee der Unsterblichkeit bei den Alten.
an ihrer mütterlichen Brust mit der Nahrung eines neuen
Lebens tränken. So zeigt sie uns jener Grabthurm, welcher
sich unter den Trümmern von Xanthos so wunderbar erhalten
hat, eines der ehrwürdigsten Denkmäler des Alterthums, ein
unschätzbares Zeugniß des tiefen Sinnes, mit welchem die
Kunst das Sterben darzustellen wußte, die heitere Kunst der
Hellenen, wie sie gewöhnlich genannt und dabei so aufgefaßt
wird, als wenn sie Alles fern hielte, was die Tiefen des
Menschenherzens aufregte, und nur im vollen Sonnenlichte
des Lebens ihr fröhliches Spiel triebe! Und doch ist nach
keiner Richtung hin die bildende Kunst der Alten erfindsamer
und thätiger gewesen, als in Beziehung auf die Todten. Ihre
Wohnstätten waren dauerhafter und kunstvoller, als die der
Lebenden. Für keinerlei Privatbauten finden wir einen gleichen
Eifer, so daß hier die Gesetzgebungen einschreiten mußten, um
einem übermäßigen Aufwande zu steuern. Ein Schmuck des
Landes, zogen sich die Gräber an den besuchtesten Heerstraßen
entlang, zum deutlichen Zeichen, daß man sie dem Auge mög¬
lichst nahe haben wollte; sie waren von Gartenbeeten und
Sitzplätzen umgeben, von hohen Bäumen beschattet und mit
Inschriften ausgestattet, welche den ununterbrochenen Verkehr
zwischen Lebenden und Todten auf das Deutlichste aussprechen.
Denn nicht nur der Abschiedsgruß tönt gleichsam sichtbar dem
Verstorbenen nach, sondern auch dieser spricht den Wanderer
an. Gruß und Gegengruß wird gewechselt. Je tapferer und
gebildeter eine bürgerliche Gemeinde war, um so eifriger be¬
thätigte sie sich in der Aufmerksamkeit für ihre abgeschiedenen
Genossen, um einerseits ihre Ruhestätte so sicher wie möglich
zu machen und andererseits die Gemeinschaft mit ihnen bildlich
zu bezeugen. So sehen wir auf den attischen Denksteinen
Gatte und Gattin Hand in Hand ihren Bund erneuen, wir
finden die Glieder der Familie in voller Zahl vereinigt; der
Verstorbene, als der durch den Tod Verklärte, bildet nach wie
vor den Mittelpunkt des gemeinsamen Mahles; Frau und
Kinder sind zugegen, sowie die Diener und die Hausschlange,
das heilige Symbol des Ortsgenius, welcher jede Cultusstätte

Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten.
an ihrer mütterlichen Bruſt mit der Nahrung eines neuen
Lebens tränken. So zeigt ſie uns jener Grabthurm, welcher
ſich unter den Trümmern von Xanthos ſo wunderbar erhalten
hat, eines der ehrwürdigſten Denkmäler des Alterthums, ein
unſchätzbares Zeugniß des tiefen Sinnes, mit welchem die
Kunſt das Sterben darzuſtellen wußte, die heitere Kunſt der
Hellenen, wie ſie gewöhnlich genannt und dabei ſo aufgefaßt
wird, als wenn ſie Alles fern hielte, was die Tiefen des
Menſchenherzens aufregte, und nur im vollen Sonnenlichte
des Lebens ihr fröhliches Spiel triebe! Und doch iſt nach
keiner Richtung hin die bildende Kunſt der Alten erfindſamer
und thätiger geweſen, als in Beziehung auf die Todten. Ihre
Wohnſtätten waren dauerhafter und kunſtvoller, als die der
Lebenden. Für keinerlei Privatbauten finden wir einen gleichen
Eifer, ſo daß hier die Geſetzgebungen einſchreiten mußten, um
einem übermäßigen Aufwande zu ſteuern. Ein Schmuck des
Landes, zogen ſich die Gräber an den beſuchteſten Heerſtraßen
entlang, zum deutlichen Zeichen, daß man ſie dem Auge mög¬
lichſt nahe haben wollte; ſie waren von Gartenbeeten und
Sitzplätzen umgeben, von hohen Bäumen beſchattet und mit
Inſchriften ausgeſtattet, welche den ununterbrochenen Verkehr
zwiſchen Lebenden und Todten auf das Deutlichſte ausſprechen.
Denn nicht nur der Abſchiedsgruß tönt gleichſam ſichtbar dem
Verſtorbenen nach, ſondern auch dieſer ſpricht den Wanderer
an. Gruß und Gegengruß wird gewechſelt. Je tapferer und
gebildeter eine bürgerliche Gemeinde war, um ſo eifriger be¬
thätigte ſie ſich in der Aufmerkſamkeit für ihre abgeſchiedenen
Genoſſen, um einerſeits ihre Ruheſtätte ſo ſicher wie möglich
zu machen und andererſeits die Gemeinſchaft mit ihnen bildlich
zu bezeugen. So ſehen wir auf den attiſchen Denkſteinen
Gatte und Gattin Hand in Hand ihren Bund erneuen, wir
finden die Glieder der Familie in voller Zahl vereinigt; der
Verſtorbene, als der durch den Tod Verklärte, bildet nach wie
vor den Mittelpunkt des gemeinſamen Mahles; Frau und
Kinder ſind zugegen, ſowie die Diener und die Hausſchlange,
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[226/0242] Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. an ihrer mütterlichen Bruſt mit der Nahrung eines neuen Lebens tränken. So zeigt ſie uns jener Grabthurm, welcher ſich unter den Trümmern von Xanthos ſo wunderbar erhalten hat, eines der ehrwürdigſten Denkmäler des Alterthums, ein unſchätzbares Zeugniß des tiefen Sinnes, mit welchem die Kunſt das Sterben darzuſtellen wußte, die heitere Kunſt der Hellenen, wie ſie gewöhnlich genannt und dabei ſo aufgefaßt wird, als wenn ſie Alles fern hielte, was die Tiefen des Menſchenherzens aufregte, und nur im vollen Sonnenlichte des Lebens ihr fröhliches Spiel triebe! Und doch iſt nach keiner Richtung hin die bildende Kunſt der Alten erfindſamer und thätiger geweſen, als in Beziehung auf die Todten. Ihre Wohnſtätten waren dauerhafter und kunſtvoller, als die der Lebenden. Für keinerlei Privatbauten finden wir einen gleichen Eifer, ſo daß hier die Geſetzgebungen einſchreiten mußten, um einem übermäßigen Aufwande zu ſteuern. Ein Schmuck des Landes, zogen ſich die Gräber an den beſuchteſten Heerſtraßen entlang, zum deutlichen Zeichen, daß man ſie dem Auge mög¬ lichſt nahe haben wollte; ſie waren von Gartenbeeten und Sitzplätzen umgeben, von hohen Bäumen beſchattet und mit Inſchriften ausgeſtattet, welche den ununterbrochenen Verkehr zwiſchen Lebenden und Todten auf das Deutlichſte ausſprechen. Denn nicht nur der Abſchiedsgruß tönt gleichſam ſichtbar dem Verſtorbenen nach, ſondern auch dieſer ſpricht den Wanderer an. Gruß und Gegengruß wird gewechſelt. Je tapferer und gebildeter eine bürgerliche Gemeinde war, um ſo eifriger be¬ thätigte ſie ſich in der Aufmerkſamkeit für ihre abgeſchiedenen Genoſſen, um einerſeits ihre Ruheſtätte ſo ſicher wie möglich zu machen und andererſeits die Gemeinſchaft mit ihnen bildlich zu bezeugen. So ſehen wir auf den attiſchen Denkſteinen Gatte und Gattin Hand in Hand ihren Bund erneuen, wir finden die Glieder der Familie in voller Zahl vereinigt; der Verſtorbene, als der durch den Tod Verklärte, bildet nach wie vor den Mittelpunkt des gemeinſamen Mahles; Frau und Kinder ſind zugegen, ſowie die Diener und die Hausſchlange, das heilige Symbol des Ortsgenius, welcher jede Cultusſtätte

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/242>, abgerufen am 24.11.2024.