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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Gastfreundschaft.
lichkeit auf grobe Weise verletzt worden ist, so hat dies vor¬
zugsweise darin seinen Grund gehabt, daß Grundsätze des
Alterthums in mißbräuchlicher Weise auf die gesellschaftlichen
Zustände der neuen Welt angewendet worden sind. Dazu ge¬
hört namentlich die Idee einer Staatsreligion.

Sie ist, wie wir sahen, aus dem Wesen des antiken Staats
mit Nothwendigkeit hervorgegangen, sie ist zum Zusammen¬
halten und zur Kräftigung der kleinen Gemeinden von größter
Wichtigkeit gewesen und hat sich, so weit wir die Geschichte
überblicken, ungefährlich erwiesen. Denn nur in sehr seltenen
Fällen hat sie durch Verbindung mit anderen Parteiinteressen
eine verderbliche Macht gewonnen und solche Opfer verlangt,
wie Sokrates. Sie wurde erst gefährlich, als im Gegensatze
zu den antiken Staatsreligionen eine Religion auftrat, welche
mit dem Staate nichts zu schaffen haben wollte, sondern nur
den einzelnen Menschen aufsuchte, um ihn und sein Haus selig
zu machen. Eine solche Religion entzog dem Staatswesen
ein wesentliches Element, sie drohte den Menschen demselben
zu entfremden. Darum raffte das absterbende Heidenthum
seine letzten Kräfte und Alles, was noch in Rom an Haß
gegen das Ausland und von Abscheu gegen die Juden vor¬
handen war, zusammen, um mit einem Fanatismus, welcher
ihm sonst fremd war, die das Leben der Staatsgesellschaft
bedrohenden Elemente gewaltsam auszustoßen.

Die Verfolgung, welche es zu erdulden hatte, hat das
Christenthum nur verherrlicht und gestärkt; aber viel ver¬
hängnißvoller wurde ihm sein Sieg. Denn nun wurde ihm
seiner innersten Natur zuwider der Charakter eines Staats¬
bekenntnisses aufgeprägt; der Cäsarenstaat wollte durch die
neue Religion neue Siegeskraft gewinnen und es erwuchs
eine Verbindung zwischen Religion und Staatsgewalt, welche
das bedenklichste Erbtheil ist, das die neue Welt von der alten
überkommen hat, indem der Christenstaat daraus sein Recht
und seine Verpflichtung herleitete, die von seinem Bekenntnisse
Abweichenden als schlechte Bürger, ja als Staatsverbrecher

Die Gaſtfreundſchaft.
lichkeit auf grobe Weiſe verletzt worden iſt, ſo hat dies vor¬
zugsweiſe darin ſeinen Grund gehabt, daß Grundſätze des
Alterthums in mißbräuchlicher Weiſe auf die geſellſchaftlichen
Zuſtände der neuen Welt angewendet worden ſind. Dazu ge¬
hört namentlich die Idee einer Staatsreligion.

Sie iſt, wie wir ſahen, aus dem Weſen des antiken Staats
mit Nothwendigkeit hervorgegangen, ſie iſt zum Zuſammen¬
halten und zur Kräftigung der kleinen Gemeinden von größter
Wichtigkeit geweſen und hat ſich, ſo weit wir die Geſchichte
überblicken, ungefährlich erwieſen. Denn nur in ſehr ſeltenen
Fällen hat ſie durch Verbindung mit anderen Parteiintereſſen
eine verderbliche Macht gewonnen und ſolche Opfer verlangt,
wie Sokrates. Sie wurde erſt gefährlich, als im Gegenſatze
zu den antiken Staatsreligionen eine Religion auftrat, welche
mit dem Staate nichts zu ſchaffen haben wollte, ſondern nur
den einzelnen Menſchen aufſuchte, um ihn und ſein Haus ſelig
zu machen. Eine ſolche Religion entzog dem Staatsweſen
ein weſentliches Element, ſie drohte den Menſchen demſelben
zu entfremden. Darum raffte das abſterbende Heidenthum
ſeine letzten Kräfte und Alles, was noch in Rom an Haß
gegen das Ausland und von Abſcheu gegen die Juden vor¬
handen war, zuſammen, um mit einem Fanatismus, welcher
ihm ſonſt fremd war, die das Leben der Staatsgeſellſchaft
bedrohenden Elemente gewaltſam auszuſtoßen.

Die Verfolgung, welche es zu erdulden hatte, hat das
Chriſtenthum nur verherrlicht und geſtärkt; aber viel ver¬
hängnißvoller wurde ihm ſein Sieg. Denn nun wurde ihm
ſeiner innerſten Natur zuwider der Charakter eines Staats¬
bekenntniſſes aufgeprägt; der Cäſarenſtaat wollte durch die
neue Religion neue Siegeskraft gewinnen und es erwuchs
eine Verbindung zwiſchen Religion und Staatsgewalt, welche
das bedenklichſte Erbtheil iſt, das die neue Welt von der alten
überkommen hat, indem der Chriſtenſtaat daraus ſein Recht
und ſeine Verpflichtung herleitete, die von ſeinem Bekenntniſſe
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[213/0229] Die Gaſtfreundſchaft. lichkeit auf grobe Weiſe verletzt worden iſt, ſo hat dies vor¬ zugsweiſe darin ſeinen Grund gehabt, daß Grundſätze des Alterthums in mißbräuchlicher Weiſe auf die geſellſchaftlichen Zuſtände der neuen Welt angewendet worden ſind. Dazu ge¬ hört namentlich die Idee einer Staatsreligion. Sie iſt, wie wir ſahen, aus dem Weſen des antiken Staats mit Nothwendigkeit hervorgegangen, ſie iſt zum Zuſammen¬ halten und zur Kräftigung der kleinen Gemeinden von größter Wichtigkeit geweſen und hat ſich, ſo weit wir die Geſchichte überblicken, ungefährlich erwieſen. Denn nur in ſehr ſeltenen Fällen hat ſie durch Verbindung mit anderen Parteiintereſſen eine verderbliche Macht gewonnen und ſolche Opfer verlangt, wie Sokrates. Sie wurde erſt gefährlich, als im Gegenſatze zu den antiken Staatsreligionen eine Religion auftrat, welche mit dem Staate nichts zu ſchaffen haben wollte, ſondern nur den einzelnen Menſchen aufſuchte, um ihn und ſein Haus ſelig zu machen. Eine ſolche Religion entzog dem Staatsweſen ein weſentliches Element, ſie drohte den Menſchen demſelben zu entfremden. Darum raffte das abſterbende Heidenthum ſeine letzten Kräfte und Alles, was noch in Rom an Haß gegen das Ausland und von Abſcheu gegen die Juden vor¬ handen war, zuſammen, um mit einem Fanatismus, welcher ihm ſonſt fremd war, die das Leben der Staatsgeſellſchaft bedrohenden Elemente gewaltſam auszuſtoßen. Die Verfolgung, welche es zu erdulden hatte, hat das Chriſtenthum nur verherrlicht und geſtärkt; aber viel ver¬ hängnißvoller wurde ihm ſein Sieg. Denn nun wurde ihm ſeiner innerſten Natur zuwider der Charakter eines Staats¬ bekenntniſſes aufgeprägt; der Cäſarenſtaat wollte durch die neue Religion neue Siegeskraft gewinnen und es erwuchs eine Verbindung zwiſchen Religion und Staatsgewalt, welche das bedenklichſte Erbtheil iſt, das die neue Welt von der alten überkommen hat, indem der Chriſtenſtaat daraus ſein Recht und ſeine Verpflichtung herleitete, die von ſeinem Bekenntniſſe Abweichenden als ſchlechte Bürger, ja als Staatsverbrecher

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/229>, abgerufen am 24.11.2024.