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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Gastfreundschaft.
wohlgepflegten Heerstraßen, mit Hermen ausgestattet, die auch
dem einsamen Wandrer Auskunft ertheilten und einen guten
Spruch auf den Weg mitgaben, kennzeichneten das Land als
einen Sitz edler Gastlichkeit. Die Seemacht Athens beruhte
darauf, daß allen geschickten Werkleuten aus Hellas freier Zu¬
zug gestattet wurde; um den Kern der eigentlichen Bürger
bildete sich ein Stand von Schutzgenossen, dessen Pflege Pe¬
rikles sich ganz besonders angelegen sein ließ, und Kephalos
war gewiß nicht der Einzige, welchen er seiner edlen Sitte
und Bildung wegen durch persönliches Zureden veranlaßte,
nach Athen überzusiedeln. Der Gastfreundschaft verdankte Athen,
daß es durch Polygnotos ein Sitz der ersten Malerschule
wurde, durch Anaxagoras ein Sitz der Philosophie; mit Phe¬
rekydes und Herodot bürgerte sich die Geschichtschreibung ein,
mit Phaeinos die Astronomie. So, wie Athen an Demosthenes
wieder einen Staatsmann hatte, welcher der Vergangenheit
Würdiges von den Bürgern verlangte, war der Schutz hülfe¬
suchender Fremden wieder die erste Forderung, wie die Reden
für Rhodos und Megalopolis bezeugen. Als aber die selbst¬
ständige Geschichte der Stadt zu Ende war, blühte sie fort
als ein Mittelpunkt der Wissenschaft, deren Jünger aus allen
Weltgegenden in den Peiraieus einzogen, und erst mit dem
Dekrete Justinian's, welcher das Gastrecht aufhob und die
Philosophen auswies, hörte Athen auf zu leben, denn die
Seele seiner Geschichte war die Gastfreiheit.

In Italien zeigt sie sich noch deutlicher als eine geschicht¬
liche Macht; denn die älteste Urkunde mittelitalischer Geschichte
ist das Verzeichniß der Gemeinden, welche durch Gastrecht ver¬
bunden am Quell der Ferentina das Bundesopfer und Fest¬
mahl hielten. Kraft des Gastrechts ist aus diesen Gemeinden
ein Volk erwachsen; mit dem Anschlusse an diese Gemeinschaft
ist Rom in die Geschichte eingetreten; hier hat es politische
Ideen aufgenommen und seine erste Schule durchgemacht; an
Alba Longa's Stelle wurde ihm das Ehrenrecht, die Schwester¬
städte zu bewirthen; mehr und mehr in den Mittelpunkt ge¬
schoben, hat es hier vorausschauen, leiten, herrschen gelernt.

Curtius, Alterthum. 14

Die Gaſtfreundſchaft.
wohlgepflegten Heerſtraßen, mit Hermen ausgeſtattet, die auch
dem einſamen Wandrer Auskunft ertheilten und einen guten
Spruch auf den Weg mitgaben, kennzeichneten das Land als
einen Sitz edler Gaſtlichkeit. Die Seemacht Athens beruhte
darauf, daß allen geſchickten Werkleuten aus Hellas freier Zu¬
zug geſtattet wurde; um den Kern der eigentlichen Bürger
bildete ſich ein Stand von Schutzgenoſſen, deſſen Pflege Pe¬
rikles ſich ganz beſonders angelegen ſein ließ, und Kephalos
war gewiß nicht der Einzige, welchen er ſeiner edlen Sitte
und Bildung wegen durch perſönliches Zureden veranlaßte,
nach Athen überzuſiedeln. Der Gaſtfreundſchaft verdankte Athen,
daß es durch Polygnotos ein Sitz der erſten Malerſchule
wurde, durch Anaxagoras ein Sitz der Philoſophie; mit Phe¬
rekydes und Herodot bürgerte ſich die Geſchichtſchreibung ein,
mit Phaeinos die Aſtronomie. So, wie Athen an Demoſthenes
wieder einen Staatsmann hatte, welcher der Vergangenheit
Würdiges von den Bürgern verlangte, war der Schutz hülfe¬
ſuchender Fremden wieder die erſte Forderung, wie die Reden
für Rhodos und Megalopolis bezeugen. Als aber die ſelbſt¬
ſtändige Geſchichte der Stadt zu Ende war, blühte ſie fort
als ein Mittelpunkt der Wiſſenſchaft, deren Jünger aus allen
Weltgegenden in den Peiraieus einzogen, und erſt mit dem
Dekrete Juſtinian's, welcher das Gaſtrecht aufhob und die
Philoſophen auswies, hörte Athen auf zu leben, denn die
Seele ſeiner Geſchichte war die Gaſtfreiheit.

In Italien zeigt ſie ſich noch deutlicher als eine geſchicht¬
liche Macht; denn die älteſte Urkunde mittelitaliſcher Geſchichte
iſt das Verzeichniß der Gemeinden, welche durch Gaſtrecht ver¬
bunden am Quell der Ferentina das Bundesopfer und Feſt¬
mahl hielten. Kraft des Gaſtrechts iſt aus dieſen Gemeinden
ein Volk erwachſen; mit dem Anſchluſſe an dieſe Gemeinſchaft
iſt Rom in die Geſchichte eingetreten; hier hat es politiſche
Ideen aufgenommen und ſeine erſte Schule durchgemacht; an
Alba Longa's Stelle wurde ihm das Ehrenrecht, die Schweſter¬
ſtädte zu bewirthen; mehr und mehr in den Mittelpunkt ge¬
ſchoben, hat es hier vorausſchauen, leiten, herrſchen gelernt.

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[209/0225] Die Gaſtfreundſchaft. wohlgepflegten Heerſtraßen, mit Hermen ausgeſtattet, die auch dem einſamen Wandrer Auskunft ertheilten und einen guten Spruch auf den Weg mitgaben, kennzeichneten das Land als einen Sitz edler Gaſtlichkeit. Die Seemacht Athens beruhte darauf, daß allen geſchickten Werkleuten aus Hellas freier Zu¬ zug geſtattet wurde; um den Kern der eigentlichen Bürger bildete ſich ein Stand von Schutzgenoſſen, deſſen Pflege Pe¬ rikles ſich ganz beſonders angelegen ſein ließ, und Kephalos war gewiß nicht der Einzige, welchen er ſeiner edlen Sitte und Bildung wegen durch perſönliches Zureden veranlaßte, nach Athen überzuſiedeln. Der Gaſtfreundſchaft verdankte Athen, daß es durch Polygnotos ein Sitz der erſten Malerſchule wurde, durch Anaxagoras ein Sitz der Philoſophie; mit Phe¬ rekydes und Herodot bürgerte ſich die Geſchichtſchreibung ein, mit Phaeinos die Aſtronomie. So, wie Athen an Demoſthenes wieder einen Staatsmann hatte, welcher der Vergangenheit Würdiges von den Bürgern verlangte, war der Schutz hülfe¬ ſuchender Fremden wieder die erſte Forderung, wie die Reden für Rhodos und Megalopolis bezeugen. Als aber die ſelbſt¬ ſtändige Geſchichte der Stadt zu Ende war, blühte ſie fort als ein Mittelpunkt der Wiſſenſchaft, deren Jünger aus allen Weltgegenden in den Peiraieus einzogen, und erſt mit dem Dekrete Juſtinian's, welcher das Gaſtrecht aufhob und die Philoſophen auswies, hörte Athen auf zu leben, denn die Seele ſeiner Geſchichte war die Gaſtfreiheit. In Italien zeigt ſie ſich noch deutlicher als eine geſchicht¬ liche Macht; denn die älteſte Urkunde mittelitaliſcher Geſchichte iſt das Verzeichniß der Gemeinden, welche durch Gaſtrecht ver¬ bunden am Quell der Ferentina das Bundesopfer und Feſt¬ mahl hielten. Kraft des Gaſtrechts iſt aus dieſen Gemeinden ein Volk erwachſen; mit dem Anſchluſſe an dieſe Gemeinſchaft iſt Rom in die Geſchichte eingetreten; hier hat es politiſche Ideen aufgenommen und ſeine erſte Schule durchgemacht; an Alba Longa's Stelle wurde ihm das Ehrenrecht, die Schweſter¬ ſtädte zu bewirthen; mehr und mehr in den Mittelpunkt ge¬ ſchoben, hat es hier vorausſchauen, leiten, herrſchen gelernt. Curtius, Alterthum. 14

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/225>, abgerufen am 24.11.2024.