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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Freundschaft im Alterthume.
und geregelt wurden, sondern freie Verbindungen, Wahlver¬
bindungen. So wählte sich in Kreta und Sparta der gereifte
Mann einen Knaben, welchen er im Geiste der Verfassung, in
der Sitte des Landes und in der Waffenkunst aufzog. Er
sollte ihm, wie der griechische Ausdruck sagt, den Geist des
Gemeinwesens "einhauchen" und der Knabe durch persönliche
Hingabe an seinen väterlichen Freund in den Staat hinein¬
wachsen; sie war das gesetzlich verordnete Bildungsmittel der
Jugend. Aber auch die Erwachsenen lebten mit einander in
genossenschaftlichen Kreisen und lagerten auch im Frieden wie
Zeltgenossen bei einander, um stets eingedenk zu sein, daß
jeder Einzelne erst der Gemeinde und seinen Gefährten ange¬
höre, und dann seinem Hause. In der Schlacht standen die
durch Freundschaftsschwur Verbundenen bei einander und dem
Eros galt das Opfer, welches den Kampf eröffnete.

So ruhte des Staates Heil auf der Freundschaft, welche
in größeren und kleineren Kreisen seine Mitglieder vereinigte;
sie war das Palladium des Staats, und während sonst überall
ein strenges Gesetz waltete und die Bewegung des Eigenwillens
eng umschränkte, so war hier in wohlverstandenem Staatsin¬
teresse volle Freiheit gelassen, weil man die Kraft der Liebe
im Staate nicht entbehren wollte, und diese ihrer Natur nach
nur in der Luft der Freiheit gedeihen kann. Hier behielt das
Menschliche sein Recht und schützte den Staat vor Erstarrung
in seelenlosem Mechanismus.

Aehnliche Ideen, wie die in Kreta und Sparta verwirk¬
lichten, waren in den Pythagoreern lebendig, deren Weisheit
ja auf denselben pythischen Gott zurückgeführt wurde, welchen
auch die dorischen Staaten als ihren Gesetzgeber verehrten.
War hier die Freundschaft von Anfang an der Eckstein des
Staatswesens, so war es dagegen das Ziel pythagoreischer
Freundschaft, eine bestehende Staatsgesellschaft sittlich zu er¬
neuern, indem die besten Bürger sich zusammenschlossen, um
in ihrer Mitte das wahre Volksthum zu pflegen, wie die
Essener im Volke Israel, und von sich aus den politischen
Geist zu verbreiten, der den Staat retten sollte. Aus den

Die Freundſchaft im Alterthume.
und geregelt wurden, ſondern freie Verbindungen, Wahlver¬
bindungen. So wählte ſich in Kreta und Sparta der gereifte
Mann einen Knaben, welchen er im Geiſte der Verfaſſung, in
der Sitte des Landes und in der Waffenkunſt aufzog. Er
ſollte ihm, wie der griechiſche Ausdruck ſagt, den Geiſt des
Gemeinweſens »einhauchen« und der Knabe durch perſönliche
Hingabe an ſeinen väterlichen Freund in den Staat hinein¬
wachſen; ſie war das geſetzlich verordnete Bildungsmittel der
Jugend. Aber auch die Erwachſenen lebten mit einander in
genoſſenſchaftlichen Kreiſen und lagerten auch im Frieden wie
Zeltgenoſſen bei einander, um ſtets eingedenk zu ſein, daß
jeder Einzelne erſt der Gemeinde und ſeinen Gefährten ange¬
höre, und dann ſeinem Hauſe. In der Schlacht ſtanden die
durch Freundſchaftsſchwur Verbundenen bei einander und dem
Eros galt das Opfer, welches den Kampf eröffnete.

So ruhte des Staates Heil auf der Freundſchaft, welche
in größeren und kleineren Kreiſen ſeine Mitglieder vereinigte;
ſie war das Palladium des Staats, und während ſonſt überall
ein ſtrenges Geſetz waltete und die Bewegung des Eigenwillens
eng umſchränkte, ſo war hier in wohlverſtandenem Staatsin¬
tereſſe volle Freiheit gelaſſen, weil man die Kraft der Liebe
im Staate nicht entbehren wollte, und dieſe ihrer Natur nach
nur in der Luft der Freiheit gedeihen kann. Hier behielt das
Menſchliche ſein Recht und ſchützte den Staat vor Erſtarrung
in ſeelenloſem Mechanismus.

Aehnliche Ideen, wie die in Kreta und Sparta verwirk¬
lichten, waren in den Pythagoreern lebendig, deren Weisheit
ja auf denſelben pythiſchen Gott zurückgeführt wurde, welchen
auch die doriſchen Staaten als ihren Geſetzgeber verehrten.
War hier die Freundſchaft von Anfang an der Eckſtein des
Staatsweſens, ſo war es dagegen das Ziel pythagoreiſcher
Freundſchaft, eine beſtehende Staatsgeſellſchaft ſittlich zu er¬
neuern, indem die beſten Bürger ſich zuſammenſchloſſen, um
in ihrer Mitte das wahre Volksthum zu pflegen, wie die
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[196/0212] Die Freundſchaft im Alterthume. und geregelt wurden, ſondern freie Verbindungen, Wahlver¬ bindungen. So wählte ſich in Kreta und Sparta der gereifte Mann einen Knaben, welchen er im Geiſte der Verfaſſung, in der Sitte des Landes und in der Waffenkunſt aufzog. Er ſollte ihm, wie der griechiſche Ausdruck ſagt, den Geiſt des Gemeinweſens »einhauchen« und der Knabe durch perſönliche Hingabe an ſeinen väterlichen Freund in den Staat hinein¬ wachſen; ſie war das geſetzlich verordnete Bildungsmittel der Jugend. Aber auch die Erwachſenen lebten mit einander in genoſſenſchaftlichen Kreiſen und lagerten auch im Frieden wie Zeltgenoſſen bei einander, um ſtets eingedenk zu ſein, daß jeder Einzelne erſt der Gemeinde und ſeinen Gefährten ange¬ höre, und dann ſeinem Hauſe. In der Schlacht ſtanden die durch Freundſchaftsſchwur Verbundenen bei einander und dem Eros galt das Opfer, welches den Kampf eröffnete. So ruhte des Staates Heil auf der Freundſchaft, welche in größeren und kleineren Kreiſen ſeine Mitglieder vereinigte; ſie war das Palladium des Staats, und während ſonſt überall ein ſtrenges Geſetz waltete und die Bewegung des Eigenwillens eng umſchränkte, ſo war hier in wohlverſtandenem Staatsin¬ tereſſe volle Freiheit gelaſſen, weil man die Kraft der Liebe im Staate nicht entbehren wollte, und dieſe ihrer Natur nach nur in der Luft der Freiheit gedeihen kann. Hier behielt das Menſchliche ſein Recht und ſchützte den Staat vor Erſtarrung in ſeelenloſem Mechanismus. Aehnliche Ideen, wie die in Kreta und Sparta verwirk¬ lichten, waren in den Pythagoreern lebendig, deren Weisheit ja auf denſelben pythiſchen Gott zurückgeführt wurde, welchen auch die doriſchen Staaten als ihren Geſetzgeber verehrten. War hier die Freundſchaft von Anfang an der Eckſtein des Staatsweſens, ſo war es dagegen das Ziel pythagoreiſcher Freundſchaft, eine beſtehende Staatsgeſellſchaft ſittlich zu er¬ neuern, indem die beſten Bürger ſich zuſammenſchloſſen, um in ihrer Mitte das wahre Volksthum zu pflegen, wie die Eſſener im Volke Iſrael, und von ſich aus den politiſchen Geiſt zu verbreiten, der den Staat retten ſollte. Aus den

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/212>, abgerufen am 27.11.2024.