nicht diese kühne Forderung, wen ergreift nicht die unvergäng¬ liche Wahrheit, die in ihr liegt?
Freilich haben auch die Hellenen diesen Standpunkt nicht festzuhalten vermocht. Denn so wie sich das Nachdenken auf solche Gebiete erstreckte, wo die unmittelbare Beziehung auf das sittliche Verhalten wegfiel, da mußten die Sphären des Denkens und des Handelns sich trennen. Aber so weit blieb Platon dem sokratischen Standpunkte vollkommen treu, daß er das Erkennen vom Kerne der Persönlichkeit nicht ablöste; das Licht der Erkenntniß soll den ganzen Menschen erfüllen, und wenn später die Aufgaben der theoretischen und praktischen Thätigkeit auch in größrer Breite auseinander treten, so hat doch selbst Aristoteles den Boden sokratischer Lehre, den eigent¬ lichen Mutterboden hellenischer Lebensweisheit, nicht ganz verlassen. Auch ihm vereinigen sich beide Richtungen in einer Spitze.
Unter diesen Umständen versteht man vom griechischen Standpunkte aus die Bedeutung persönlicher Zuneigung, auch wo es sich um Wissenschaft handelt. Die Wissenschaft ist keine Waare, welche an einen beliebigen Empfänger versendet wer¬ den kann, um von diesem ohne Weiteres in seinem Hauswesen verwerthet zu werden. Auch giebt der Lehrende nicht vom Katheder herab, was er gerade von dem Vorrathe seines Wissens abzuheben für gut findet, und überläßt es dem Zu¬ falle, ob das Gegebene das gerade Passende sei und ob es richtig aufgefaßt werde. Nein, der wahre Lehrer giebt sich, seine Person, seine ganze Person, und der rechte Zuhörer wünscht, wie Sokrates dem Agathon sagt, daß die Weisheit ihm so zu eigen werde, wie aus dem volleren Becher das Wasser durch einen Wollenfaden in den leereren hinüberfließt, bis in beiden das gleiche Maß vorhanden ist. So ist alles wahre Lehren auf Geben und Nehmen, auf volle Gegenseitig¬ keit und Gemeinsamkeit des Besitzes, auf persönliches Zusam¬ mensein, auf Liebe und Freundschaft gegründet. Was trieb denn jenen wunderlichen Mann in Athen, auf allen Straßen und Plätzen umherzugehen, und die Leute am Mantel zu zupfen
Curtius, Alterthum. 13
Die Freundſchaft im Alterthume.
nicht dieſe kühne Forderung, wen ergreift nicht die unvergäng¬ liche Wahrheit, die in ihr liegt?
Freilich haben auch die Hellenen dieſen Standpunkt nicht feſtzuhalten vermocht. Denn ſo wie ſich das Nachdenken auf ſolche Gebiete erſtreckte, wo die unmittelbare Beziehung auf das ſittliche Verhalten wegfiel, da mußten die Sphären des Denkens und des Handelns ſich trennen. Aber ſo weit blieb Platon dem ſokratiſchen Standpunkte vollkommen treu, daß er das Erkennen vom Kerne der Perſönlichkeit nicht ablöſte; das Licht der Erkenntniß ſoll den ganzen Menſchen erfüllen, und wenn ſpäter die Aufgaben der theoretiſchen und praktiſchen Thätigkeit auch in größrer Breite auseinander treten, ſo hat doch ſelbſt Ariſtoteles den Boden ſokratiſcher Lehre, den eigent¬ lichen Mutterboden helleniſcher Lebensweisheit, nicht ganz verlaſſen. Auch ihm vereinigen ſich beide Richtungen in einer Spitze.
Unter dieſen Umſtänden verſteht man vom griechiſchen Standpunkte aus die Bedeutung perſönlicher Zuneigung, auch wo es ſich um Wiſſenſchaft handelt. Die Wiſſenſchaft iſt keine Waare, welche an einen beliebigen Empfänger verſendet wer¬ den kann, um von dieſem ohne Weiteres in ſeinem Hausweſen verwerthet zu werden. Auch giebt der Lehrende nicht vom Katheder herab, was er gerade von dem Vorrathe ſeines Wiſſens abzuheben für gut findet, und überläßt es dem Zu¬ falle, ob das Gegebene das gerade Paſſende ſei und ob es richtig aufgefaßt werde. Nein, der wahre Lehrer giebt ſich, ſeine Perſon, ſeine ganze Perſon, und der rechte Zuhörer wünſcht, wie Sokrates dem Agathon ſagt, daß die Weisheit ihm ſo zu eigen werde, wie aus dem volleren Becher das Waſſer durch einen Wollenfaden in den leereren hinüberfließt, bis in beiden das gleiche Maß vorhanden iſt. So iſt alles wahre Lehren auf Geben und Nehmen, auf volle Gegenſeitig¬ keit und Gemeinſamkeit des Beſitzes, auf perſönliches Zuſam¬ menſein, auf Liebe und Freundſchaft gegründet. Was trieb denn jenen wunderlichen Mann in Athen, auf allen Straßen und Plätzen umherzugehen, und die Leute am Mantel zu zupfen
Curtius, Alterthum. 13
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Die Freundſchaft im Alterthume.
nicht dieſe kühne Forderung, wen ergreift nicht die unvergäng¬
liche Wahrheit, die in ihr liegt?
Freilich haben auch die Hellenen dieſen Standpunkt nicht
feſtzuhalten vermocht. Denn ſo wie ſich das Nachdenken auf
ſolche Gebiete erſtreckte, wo die unmittelbare Beziehung auf
das ſittliche Verhalten wegfiel, da mußten die Sphären des
Denkens und des Handelns ſich trennen. Aber ſo weit blieb
Platon dem ſokratiſchen Standpunkte vollkommen treu, daß er
das Erkennen vom Kerne der Perſönlichkeit nicht ablöſte; das
Licht der Erkenntniß ſoll den ganzen Menſchen erfüllen, und
wenn ſpäter die Aufgaben der theoretiſchen und praktiſchen
Thätigkeit auch in größrer Breite auseinander treten, ſo hat
doch ſelbſt Ariſtoteles den Boden ſokratiſcher Lehre, den eigent¬
lichen Mutterboden helleniſcher Lebensweisheit, nicht ganz
verlaſſen. Auch ihm vereinigen ſich beide Richtungen in einer
Spitze.
Unter dieſen Umſtänden verſteht man vom griechiſchen
Standpunkte aus die Bedeutung perſönlicher Zuneigung, auch
wo es ſich um Wiſſenſchaft handelt. Die Wiſſenſchaft iſt keine
Waare, welche an einen beliebigen Empfänger verſendet wer¬
den kann, um von dieſem ohne Weiteres in ſeinem Hausweſen
verwerthet zu werden. Auch giebt der Lehrende nicht vom
Katheder herab, was er gerade von dem Vorrathe ſeines
Wiſſens abzuheben für gut findet, und überläßt es dem Zu¬
falle, ob das Gegebene das gerade Paſſende ſei und ob es
richtig aufgefaßt werde. Nein, der wahre Lehrer giebt ſich,
ſeine Perſon, ſeine ganze Perſon, und der rechte Zuhörer
wünſcht, wie Sokrates dem Agathon ſagt, daß die Weisheit
ihm ſo zu eigen werde, wie aus dem volleren Becher das
Waſſer durch einen Wollenfaden in den leereren hinüberfließt,
bis in beiden das gleiche Maß vorhanden iſt. So iſt alles
wahre Lehren auf Geben und Nehmen, auf volle Gegenſeitig¬
keit und Gemeinſamkeit des Beſitzes, auf perſönliches Zuſam¬
menſein, auf Liebe und Freundſchaft gegründet. Was trieb
denn jenen wunderlichen Mann in Athen, auf allen Straßen
und Plätzen umherzugehen, und die Leute am Mantel zu zupfen
Curtius, Alterthum. 13
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/209>, abgerufen am 18.05.2024.
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