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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Freundschaft im Alterthume.
Griechen. Philos heißt "lieb" und ist in diesem Sinne von
so umfassender Bedeutung, daß es Alles, was uns ans Herz
gewachsen, ja Alles, was uns zu eigen geworden ist, bezeichnet,
so daß es fast nur ein gemüthlicherer Ausdruck für die besitz¬
anzeigenden Fürwörter geworden ist. Zweitens bezeichnet es
die thätige Richtung des Gemüths auf den Gegenstand des
Wohlgefallens, es hat also schon an und für sich einen an¬
muthigen Doppelsinn, "lieb und liebend." Auch im zweiten
Gebrauche macht die Sprache einen feinen Unterschied. Als
Eigenschaftswort bezeichnet philos eine Herzensstimmung, welche
vorübergehend und auch einseitig kein kann, als Substantiv
aber gleichsam den Stand, in welchen ein Mensch eingetreten
ist, das dauernde Verhältniß der Freundschaft, welches nur
als ein gegenseitiges gedacht werden kann.

Daraus folgt schon, daß Philia ein viel weiterer Begriff
ist als "Freundschaft," während andererseits Eros viel enger
ist als unser "Liebe." Philia ist die erfolgte Aneignung, die
wohlbegründete Uebereinstimmung, der sichere Besitz des Ge¬
liebten, während Eros das einseitige Verlangen ist und eine
begehrliche, von Sinnlichkeit getrübte Aufregung des Gemüths.
Dem Eros ist die Eris verwandt; er bringt Unruhe und
Verwirrung, während mit dem Begriffe Philia der des Frie¬
dens, der Klarheit und Heiterkeit verbunden ist.

Diese Philia ist die eigentliche Seele des antiken Lebens.
Sie giebt demselben einen Hauch der Gemüthlichkeit, welcher
sich wie ein zarter Duft über die klare Gestaltenwelt des
Alterthums ausbreitet und uns mehr als alles Andere anzieht.
Sie ist das unserm Wesen Verwandteste; sie vertritt das, was
der neueren Welt die Romantik ist, den Zug von Schwärmerei,
welche aus dem Frauendienste und dem Werben um Frauen¬
minne beruht.

Darum hat sie auch die Dichtung der Hellenen beseelt.
Homer ist nie schwungvoller und ergreifender, als wenn er
die Freundschaft von Achilleus und Patroklos besingt, und
mitten unter dem wüsten Getümmel selbstsüchtiger Leidenschaften,
welches das Lager der Achäer erfüllt, ist diese Liebe wie eine

Die Freundſchaft im Alterthume.
Griechen. Philos heißt »lieb« und iſt in dieſem Sinne von
ſo umfaſſender Bedeutung, daß es Alles, was uns ans Herz
gewachſen, ja Alles, was uns zu eigen geworden iſt, bezeichnet,
ſo daß es faſt nur ein gemüthlicherer Ausdruck für die beſitz¬
anzeigenden Fürwörter geworden iſt. Zweitens bezeichnet es
die thätige Richtung des Gemüths auf den Gegenſtand des
Wohlgefallens, es hat alſo ſchon an und für ſich einen an¬
muthigen Doppelſinn, »lieb und liebend.« Auch im zweiten
Gebrauche macht die Sprache einen feinen Unterſchied. Als
Eigenſchaftswort bezeichnet philos eine Herzensſtimmung, welche
vorübergehend und auch einſeitig kein kann, als Subſtantiv
aber gleichſam den Stand, in welchen ein Menſch eingetreten
iſt, das dauernde Verhältniß der Freundſchaft, welches nur
als ein gegenſeitiges gedacht werden kann.

Daraus folgt ſchon, daß Philia ein viel weiterer Begriff
iſt als »Freundſchaft,« während andererſeits Eros viel enger
iſt als unſer »Liebe.« Philia iſt die erfolgte Aneignung, die
wohlbegründete Uebereinſtimmung, der ſichere Beſitz des Ge¬
liebten, während Eros das einſeitige Verlangen iſt und eine
begehrliche, von Sinnlichkeit getrübte Aufregung des Gemüths.
Dem Eros iſt die Eris verwandt; er bringt Unruhe und
Verwirrung, während mit dem Begriffe Philia der des Frie¬
dens, der Klarheit und Heiterkeit verbunden iſt.

Dieſe Philia iſt die eigentliche Seele des antiken Lebens.
Sie giebt demſelben einen Hauch der Gemüthlichkeit, welcher
ſich wie ein zarter Duft über die klare Geſtaltenwelt des
Alterthums ausbreitet und uns mehr als alles Andere anzieht.
Sie iſt das unſerm Weſen Verwandteſte; ſie vertritt das, was
der neueren Welt die Romantik iſt, den Zug von Schwärmerei,
welche aus dem Frauendienſte und dem Werben um Frauen¬
minne beruht.

Darum hat ſie auch die Dichtung der Hellenen beſeelt.
Homer iſt nie ſchwungvoller und ergreifender, als wenn er
die Freundſchaft von Achilleus und Patroklos beſingt, und
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[187/0203] Die Freundſchaft im Alterthume. Griechen. Philos heißt »lieb« und iſt in dieſem Sinne von ſo umfaſſender Bedeutung, daß es Alles, was uns ans Herz gewachſen, ja Alles, was uns zu eigen geworden iſt, bezeichnet, ſo daß es faſt nur ein gemüthlicherer Ausdruck für die beſitz¬ anzeigenden Fürwörter geworden iſt. Zweitens bezeichnet es die thätige Richtung des Gemüths auf den Gegenſtand des Wohlgefallens, es hat alſo ſchon an und für ſich einen an¬ muthigen Doppelſinn, »lieb und liebend.« Auch im zweiten Gebrauche macht die Sprache einen feinen Unterſchied. Als Eigenſchaftswort bezeichnet philos eine Herzensſtimmung, welche vorübergehend und auch einſeitig kein kann, als Subſtantiv aber gleichſam den Stand, in welchen ein Menſch eingetreten iſt, das dauernde Verhältniß der Freundſchaft, welches nur als ein gegenſeitiges gedacht werden kann. Daraus folgt ſchon, daß Philia ein viel weiterer Begriff iſt als »Freundſchaft,« während andererſeits Eros viel enger iſt als unſer »Liebe.« Philia iſt die erfolgte Aneignung, die wohlbegründete Uebereinſtimmung, der ſichere Beſitz des Ge¬ liebten, während Eros das einſeitige Verlangen iſt und eine begehrliche, von Sinnlichkeit getrübte Aufregung des Gemüths. Dem Eros iſt die Eris verwandt; er bringt Unruhe und Verwirrung, während mit dem Begriffe Philia der des Frie¬ dens, der Klarheit und Heiterkeit verbunden iſt. Dieſe Philia iſt die eigentliche Seele des antiken Lebens. Sie giebt demſelben einen Hauch der Gemüthlichkeit, welcher ſich wie ein zarter Duft über die klare Geſtaltenwelt des Alterthums ausbreitet und uns mehr als alles Andere anzieht. Sie iſt das unſerm Weſen Verwandteſte; ſie vertritt das, was der neueren Welt die Romantik iſt, den Zug von Schwärmerei, welche aus dem Frauendienſte und dem Werben um Frauen¬ minne beruht. Darum hat ſie auch die Dichtung der Hellenen beſeelt. Homer iſt nie ſchwungvoller und ergreifender, als wenn er die Freundſchaft von Achilleus und Patroklos beſingt, und mitten unter dem wüſten Getümmel ſelbſtſüchtiger Leidenſchaften, welches das Lager der Achäer erfüllt, iſt dieſe Liebe wie eine

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/203>, abgerufen am 27.11.2024.