Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Unfreiheit der alten Welt.
die Wiege der zu ihnen verpflanzten prophetischen Kunst. Der
Stammvater des karischen Volks galt ihnen für den Erfinder
weissagender Vogelschau; in Cilicien waren uralte Stätten der
Weissagung, mit welchen man die griechischen Sehergeschlechter
des Amphiaraos, Kalchas u. A. in Verbindung wußte. An
der Gränze Kariens und Lyciens wohnten die Telmessier, auf
deren Söhnen und Töchtern die Gabe der Weissagung ruhte;
aus Lycien stammt Olen, der erste Prophet der Griechen, und
von den Pamphyliern hatte man wunderbare Kunde ihrer
magischen Künste. Hier ist keine scharfe Gränzlinie zu finden,
welche das Gebiet orientalischer Ideenkreise abschlösse. Wie
bei den Orientalen, so war auch bei den Hellenen die Gewäh¬
rung der Schicksalszeichen mit der Religion verbunden; so bei
dem uralten Dienste des in den Eichenwipfeln rauschenden
Zeus, der das Schilfrohr heiliger Seen bewegenden Artemis,
beim Dienste des Poseidon, des Hermes, des Herakles, überall
waren den Menschen Mittel geboten, sich von dem Willen der
unsichtbaren Herren der Welt zu unterrichten, und alle im
Oriente ersonnenen und technisch ausgebildeten Mittel der
Schicksalskunde, Würfel und Loos, Traumbild und Constella¬
tion, Zeichen am Himmel und an der Erde, Opferrauch und
Lichterscheinungen, Stimmen und Bewegungen der Thiere, von
den Fischen und Schlangen bis zu dem Adler, welcher die ein¬
samen Berggipfel umkreist, Alles finden wir auch bei den
Griechen in deutlichen Spuren wieder.

Aber das Erbe des Morgenlandes wurde nicht einfach
herübergenommen, sondern umgestaltet und so zu einem natio¬
nalen Besitze gemacht, und diese Aneignung galt für eine so
wichtige That, daß sie den Heroen zugeschrieben wurde, welche
als Begründer der nationalen Bildung an der Schwelle helle¬
nischer Volksgeschichte stehen, wie Sisyphos der Weise und
Prometheus, das Urbild hellenischer Denkkraft.

Wo und wie diese Umbildung stattgefunden habe, das ist
ein Geheimniß und wie alles Werden in der Geschichte unserm
Blicke entzogen. Aber das scheint mir gewiß zu sein, daß die
wesentliche Umgestaltung schon in jenem Küstenlande geschah,

Die Unfreiheit der alten Welt.
die Wiege der zu ihnen verpflanzten prophetiſchen Kunſt. Der
Stammvater des kariſchen Volks galt ihnen für den Erfinder
weiſſagender Vogelſchau; in Cilicien waren uralte Stätten der
Weiſſagung, mit welchen man die griechiſchen Sehergeſchlechter
des Amphiaraos, Kalchas u. A. in Verbindung wußte. An
der Gränze Kariens und Lyciens wohnten die Telmeſſier, auf
deren Söhnen und Töchtern die Gabe der Weiſſagung ruhte;
aus Lycien ſtammt Olen, der erſte Prophet der Griechen, und
von den Pamphyliern hatte man wunderbare Kunde ihrer
magiſchen Künſte. Hier iſt keine ſcharfe Gränzlinie zu finden,
welche das Gebiet orientaliſcher Ideenkreiſe abſchlöſſe. Wie
bei den Orientalen, ſo war auch bei den Hellenen die Gewäh¬
rung der Schickſalszeichen mit der Religion verbunden; ſo bei
dem uralten Dienſte des in den Eichenwipfeln rauſchenden
Zeus, der das Schilfrohr heiliger Seen bewegenden Artemis,
beim Dienſte des Poſeidon, des Hermes, des Herakles, überall
waren den Menſchen Mittel geboten, ſich von dem Willen der
unſichtbaren Herren der Welt zu unterrichten, und alle im
Oriente erſonnenen und techniſch ausgebildeten Mittel der
Schickſalskunde, Würfel und Loos, Traumbild und Conſtella¬
tion, Zeichen am Himmel und an der Erde, Opferrauch und
Lichterſcheinungen, Stimmen und Bewegungen der Thiere, von
den Fiſchen und Schlangen bis zu dem Adler, welcher die ein¬
ſamen Berggipfel umkreiſt, Alles finden wir auch bei den
Griechen in deutlichen Spuren wieder.

Aber das Erbe des Morgenlandes wurde nicht einfach
herübergenommen, ſondern umgeſtaltet und ſo zu einem natio¬
nalen Beſitze gemacht, und dieſe Aneignung galt für eine ſo
wichtige That, daß ſie den Heroen zugeſchrieben wurde, welche
als Begründer der nationalen Bildung an der Schwelle helle¬
niſcher Volksgeſchichte ſtehen, wie Siſyphos der Weiſe und
Prometheus, das Urbild helleniſcher Denkkraft.

Wo und wie dieſe Umbildung ſtattgefunden habe, das iſt
ein Geheimniß und wie alles Werden in der Geſchichte unſerm
Blicke entzogen. Aber das ſcheint mir gewiß zu ſein, daß die
weſentliche Umgeſtaltung ſchon in jenem Küſtenlande geſchah,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0184" n="168"/><fw place="top" type="header">Die Unfreiheit der alten Welt.<lb/></fw>die Wiege der zu ihnen verpflanzten propheti&#x017F;chen Kun&#x017F;t. Der<lb/>
Stammvater des kari&#x017F;chen Volks galt ihnen für den Erfinder<lb/>
wei&#x017F;&#x017F;agender Vogel&#x017F;chau; in Cilicien waren uralte Stätten der<lb/>
Wei&#x017F;&#x017F;agung, mit welchen man die griechi&#x017F;chen Seherge&#x017F;chlechter<lb/>
des Amphiaraos, Kalchas u. A. in Verbindung wußte. An<lb/>
der Gränze Kariens und Lyciens wohnten die Telme&#x017F;&#x017F;ier, auf<lb/>
deren Söhnen und Töchtern die Gabe der Wei&#x017F;&#x017F;agung ruhte;<lb/>
aus Lycien &#x017F;tammt Olen, der er&#x017F;te Prophet der Griechen, und<lb/>
von den Pamphyliern hatte man wunderbare Kunde ihrer<lb/>
magi&#x017F;chen Kün&#x017F;te. Hier i&#x017F;t keine &#x017F;charfe Gränzlinie zu finden,<lb/>
welche das Gebiet orientali&#x017F;cher Ideenkrei&#x017F;e ab&#x017F;chlö&#x017F;&#x017F;e. Wie<lb/>
bei den Orientalen, &#x017F;o war auch bei den Hellenen die Gewäh¬<lb/>
rung der Schick&#x017F;alszeichen mit der Religion verbunden; &#x017F;o bei<lb/>
dem uralten Dien&#x017F;te des in den Eichenwipfeln rau&#x017F;chenden<lb/>
Zeus, der das Schilfrohr heiliger Seen bewegenden Artemis,<lb/>
beim Dien&#x017F;te des Po&#x017F;eidon, des Hermes, des Herakles, überall<lb/>
waren den Men&#x017F;chen Mittel geboten, &#x017F;ich von dem Willen der<lb/>
un&#x017F;ichtbaren Herren der Welt zu unterrichten, und alle im<lb/>
Oriente er&#x017F;onnenen und techni&#x017F;ch ausgebildeten Mittel der<lb/>
Schick&#x017F;alskunde, Würfel und Loos, Traumbild und Con&#x017F;tella¬<lb/>
tion, Zeichen am Himmel und an der Erde, Opferrauch und<lb/>
Lichter&#x017F;cheinungen, Stimmen und Bewegungen der Thiere, von<lb/>
den Fi&#x017F;chen und Schlangen bis zu dem Adler, welcher die ein¬<lb/>
&#x017F;amen Berggipfel umkrei&#x017F;t, Alles finden wir auch bei den<lb/>
Griechen in deutlichen Spuren wieder.</p><lb/>
        <p>Aber das Erbe des Morgenlandes wurde nicht einfach<lb/>
herübergenommen, &#x017F;ondern umge&#x017F;taltet und &#x017F;o zu einem natio¬<lb/>
nalen Be&#x017F;itze gemacht, und die&#x017F;e Aneignung galt für eine &#x017F;o<lb/>
wichtige That, daß &#x017F;ie den Heroen zuge&#x017F;chrieben wurde, welche<lb/>
als Begründer der nationalen Bildung an der Schwelle helle¬<lb/>
ni&#x017F;cher Volksge&#x017F;chichte &#x017F;tehen, wie Si&#x017F;yphos der Wei&#x017F;e und<lb/>
Prometheus, das Urbild helleni&#x017F;cher Denkkraft.</p><lb/>
        <p>Wo und wie die&#x017F;e Umbildung &#x017F;tattgefunden habe, das i&#x017F;t<lb/>
ein Geheimniß und wie alles Werden in der Ge&#x017F;chichte un&#x017F;erm<lb/>
Blicke entzogen. Aber das &#x017F;cheint mir gewiß zu &#x017F;ein, daß die<lb/>
we&#x017F;entliche Umge&#x017F;taltung &#x017F;chon in jenem Kü&#x017F;tenlande ge&#x017F;chah,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[168/0184] Die Unfreiheit der alten Welt. die Wiege der zu ihnen verpflanzten prophetiſchen Kunſt. Der Stammvater des kariſchen Volks galt ihnen für den Erfinder weiſſagender Vogelſchau; in Cilicien waren uralte Stätten der Weiſſagung, mit welchen man die griechiſchen Sehergeſchlechter des Amphiaraos, Kalchas u. A. in Verbindung wußte. An der Gränze Kariens und Lyciens wohnten die Telmeſſier, auf deren Söhnen und Töchtern die Gabe der Weiſſagung ruhte; aus Lycien ſtammt Olen, der erſte Prophet der Griechen, und von den Pamphyliern hatte man wunderbare Kunde ihrer magiſchen Künſte. Hier iſt keine ſcharfe Gränzlinie zu finden, welche das Gebiet orientaliſcher Ideenkreiſe abſchlöſſe. Wie bei den Orientalen, ſo war auch bei den Hellenen die Gewäh¬ rung der Schickſalszeichen mit der Religion verbunden; ſo bei dem uralten Dienſte des in den Eichenwipfeln rauſchenden Zeus, der das Schilfrohr heiliger Seen bewegenden Artemis, beim Dienſte des Poſeidon, des Hermes, des Herakles, überall waren den Menſchen Mittel geboten, ſich von dem Willen der unſichtbaren Herren der Welt zu unterrichten, und alle im Oriente erſonnenen und techniſch ausgebildeten Mittel der Schickſalskunde, Würfel und Loos, Traumbild und Conſtella¬ tion, Zeichen am Himmel und an der Erde, Opferrauch und Lichterſcheinungen, Stimmen und Bewegungen der Thiere, von den Fiſchen und Schlangen bis zu dem Adler, welcher die ein¬ ſamen Berggipfel umkreiſt, Alles finden wir auch bei den Griechen in deutlichen Spuren wieder. Aber das Erbe des Morgenlandes wurde nicht einfach herübergenommen, ſondern umgeſtaltet und ſo zu einem natio¬ nalen Beſitze gemacht, und dieſe Aneignung galt für eine ſo wichtige That, daß ſie den Heroen zugeſchrieben wurde, welche als Begründer der nationalen Bildung an der Schwelle helle¬ niſcher Volksgeſchichte ſtehen, wie Siſyphos der Weiſe und Prometheus, das Urbild helleniſcher Denkkraft. Wo und wie dieſe Umbildung ſtattgefunden habe, das iſt ein Geheimniß und wie alles Werden in der Geſchichte unſerm Blicke entzogen. Aber das ſcheint mir gewiß zu ſein, daß die weſentliche Umgeſtaltung ſchon in jenem Küſtenlande geſchah,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/184
Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/184>, abgerufen am 18.05.2024.