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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Kunstsammlungen, ihre Geschichte und ihre Bestimmung.
ihm die höheren Ziele vor Augen stellt, und das Kunstmuseum
ein Ort der Sammlung, wo wir uns auf die ideale Welt be¬
sinnen, für die wir geschaffen sind, wo wir, von der Tyrannei
des Augenblicks befreit, einer großen Vergangenheit still und
ernst gegenübertreten, wo wir in einer freieren und gesunderen
Luft athmen. Die matte Seele wird erfrischt, indem sie den
alten Meistern nachdenkt und nachfühlt, was nicht möglich ist,
ohne daß sie selbst ihre Schwingen regt und den Staub ab¬
schüttelt. Der Geist gewinnt neue Spannkraft und auch für
die Dinge der Gegenwart erst den richtigen Maßstab.

Jede Zeit neigt zur Selbstüberschätzung und die unsrige
nicht am wenigsten. Hier stehen wir vor einer Welt geistiger
Schöpfungen, von denen die der klassischen Epochen der Art
sind, daß wir bekennen müssen, unsere Zeit sei außer Stande,
Ebenbürtiges zu schaffen.

Und wie ist der Mensch zu jenen Höhenpunkten geistiger
Kraft gekommen? Durch kühnes Wagen Einzelner, durch
ehrgeiziges Jagen nach Originalität? Nein, sondern durch
Treue in der Ueberlieferung, durch gewissenhafte Aneignung
des Erlernten und ein emsiges Streben schrittweise vorwärts
zu kommen.

Und wo lagen, fragen wir weiter, die Impulse zu dieser
selbstvergessenen Arbeit von Meistern und Schülern, die eine
Kette bilden, welche durch Jahrhunderte reicht?

Sie lagen nicht in Aufgaben des praktischen Lebens, von
denen in unserer Welt alle großen Erfindungen und die be¬
wundertsten Leistungen ausgehen, sondern in allen Werken
echter Kunst, namentlich des Alterthums, von den kolossalen
Gruppen bis zu den engen Feldern der Münzen und Edel¬
steine, überall treten uns die Beziehungen auf die unsichtbare
Welt als die ursprünglichen entgegen. Der Glaube an sie
und die Ueberzeugung, daß das Verhältniß zu ihr von allen
menschlichen Verhältnissen das nächste und wichtigste sei, hat
im Menschen das Kunstvermögen geweckt; aus dem Gefühle
seiner unbedingten Abhängigkeit sind die gewaltigsten Werte
geboren, welche menschlicher Energie gelungen sind, und so

Curtius, Alterthum. 8

Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung.
ihm die höheren Ziele vor Augen ſtellt, und das Kunſtmuſeum
ein Ort der Sammlung, wo wir uns auf die ideale Welt be¬
ſinnen, für die wir geſchaffen ſind, wo wir, von der Tyrannei
des Augenblicks befreit, einer großen Vergangenheit ſtill und
ernſt gegenübertreten, wo wir in einer freieren und geſunderen
Luft athmen. Die matte Seele wird erfriſcht, indem ſie den
alten Meiſtern nachdenkt und nachfühlt, was nicht möglich iſt,
ohne daß ſie ſelbſt ihre Schwingen regt und den Staub ab¬
ſchüttelt. Der Geiſt gewinnt neue Spannkraft und auch für
die Dinge der Gegenwart erſt den richtigen Maßſtab.

Jede Zeit neigt zur Selbſtüberſchätzung und die unſrige
nicht am wenigſten. Hier ſtehen wir vor einer Welt geiſtiger
Schöpfungen, von denen die der klaſſiſchen Epochen der Art
ſind, daß wir bekennen müſſen, unſere Zeit ſei außer Stande,
Ebenbürtiges zu ſchaffen.

Und wie iſt der Menſch zu jenen Höhenpunkten geiſtiger
Kraft gekommen? Durch kühnes Wagen Einzelner, durch
ehrgeiziges Jagen nach Originalität? Nein, ſondern durch
Treue in der Ueberlieferung, durch gewiſſenhafte Aneignung
des Erlernten und ein emſiges Streben ſchrittweiſe vorwärts
zu kommen.

Und wo lagen, fragen wir weiter, die Impulſe zu dieſer
ſelbſtvergeſſenen Arbeit von Meiſtern und Schülern, die eine
Kette bilden, welche durch Jahrhunderte reicht?

Sie lagen nicht in Aufgaben des praktiſchen Lebens, von
denen in unſerer Welt alle großen Erfindungen und die be¬
wundertſten Leiſtungen ausgehen, ſondern in allen Werken
echter Kunſt, namentlich des Alterthums, von den koloſſalen
Gruppen bis zu den engen Feldern der Münzen und Edel¬
ſteine, überall treten uns die Beziehungen auf die unſichtbare
Welt als die urſprünglichen entgegen. Der Glaube an ſie
und die Ueberzeugung, daß das Verhältniß zu ihr von allen
menſchlichen Verhältniſſen das nächſte und wichtigſte ſei, hat
im Menſchen das Kunſtvermögen geweckt; aus dem Gefühle
ſeiner unbedingten Abhängigkeit ſind die gewaltigſten Werte
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[113/0129] Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung. ihm die höheren Ziele vor Augen ſtellt, und das Kunſtmuſeum ein Ort der Sammlung, wo wir uns auf die ideale Welt be¬ ſinnen, für die wir geſchaffen ſind, wo wir, von der Tyrannei des Augenblicks befreit, einer großen Vergangenheit ſtill und ernſt gegenübertreten, wo wir in einer freieren und geſunderen Luft athmen. Die matte Seele wird erfriſcht, indem ſie den alten Meiſtern nachdenkt und nachfühlt, was nicht möglich iſt, ohne daß ſie ſelbſt ihre Schwingen regt und den Staub ab¬ ſchüttelt. Der Geiſt gewinnt neue Spannkraft und auch für die Dinge der Gegenwart erſt den richtigen Maßſtab. Jede Zeit neigt zur Selbſtüberſchätzung und die unſrige nicht am wenigſten. Hier ſtehen wir vor einer Welt geiſtiger Schöpfungen, von denen die der klaſſiſchen Epochen der Art ſind, daß wir bekennen müſſen, unſere Zeit ſei außer Stande, Ebenbürtiges zu ſchaffen. Und wie iſt der Menſch zu jenen Höhenpunkten geiſtiger Kraft gekommen? Durch kühnes Wagen Einzelner, durch ehrgeiziges Jagen nach Originalität? Nein, ſondern durch Treue in der Ueberlieferung, durch gewiſſenhafte Aneignung des Erlernten und ein emſiges Streben ſchrittweiſe vorwärts zu kommen. Und wo lagen, fragen wir weiter, die Impulſe zu dieſer ſelbſtvergeſſenen Arbeit von Meiſtern und Schülern, die eine Kette bilden, welche durch Jahrhunderte reicht? Sie lagen nicht in Aufgaben des praktiſchen Lebens, von denen in unſerer Welt alle großen Erfindungen und die be¬ wundertſten Leiſtungen ausgehen, ſondern in allen Werken echter Kunſt, namentlich des Alterthums, von den koloſſalen Gruppen bis zu den engen Feldern der Münzen und Edel¬ ſteine, überall treten uns die Beziehungen auf die unſichtbare Welt als die urſprünglichen entgegen. Der Glaube an ſie und die Ueberzeugung, daß das Verhältniß zu ihr von allen menſchlichen Verhältniſſen das nächſte und wichtigſte ſei, hat im Menſchen das Kunſtvermögen geweckt; aus dem Gefühle ſeiner unbedingten Abhängigkeit ſind die gewaltigſten Werte geboren, welche menſchlicher Energie gelungen ſind, und ſo Curtius, Alterthum. 8

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/129>, abgerufen am 30.11.2024.