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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Kunst der Hellenen.
fährlich erscheinen und unheimliche Besorgniß erwecken. Wir
wollen uns ja doch nicht selbst verlieren, noch auf die beson¬
dere Berechtigung unserer Zeit und unserer Nation verzichten.
Und in der That, wenn die hellenische Kunst, mit Begeisterung
ergriffen, dahin wirkte, daß sie das Angeborene und Ursprüng¬
liche abtödtete und im besten Falle keinen anderen Erfolg hätte,
als daß ein eingepfropftes Reis auf fremdem Stamme ein
künstliches Gedeihen gewönne -- so hätten wir ein Recht, uns
vor der überwältigenden Macht des hellenischen Kunstgeistes zu
fürchten. Aber verhält es sich so? Wir Deutsche müssen dies
beim Rückblick auf unsere Vergangenheit verneinen. Seit sich
die Kunst des Mittelalters erschöpft hat, sehen wir in unserer
Poesie alles Große an das Alterthum sich anschließen; ja den
seltnen Vorzug einer zwiefachen Zeit klassischer Schöpfungen
verdankt unser Vaterland der geistigen Berührung mit dem
Alterthume, und die innigste Verschmelzung des hellenischen
und deutschen Geistes bezeichnet nach unser Aller Einverständ¬
niß den Höhepunkt unserer Litteratur. Die unverwelklichsten
Lorbern schlingen sich um die Dichtungen Goethe's, welche
man eben sowohl hellenisch wie deutsch nennen könnte, und
anstatt daß das Ursprüngliche und Nationale in dieser Ver¬
bindung erdrückt wäre, finden wir gerade in der hellenisch an¬
geregten Zeit zum ersten Male wieder den vollen und tiefen
Inhalt unsers inneren Lebens in die Poesie hineingetragen
und den zerrissenen Zusammenhang mit unserer germanischen
Vorzeit wiederhergestellt. Durch Homer sind wir zu den Nibe¬
lungen gekommen, die Hellenen haben uns zu uns selbst und
zur Natur zurückgeführt. Wie die ewig gültige Religion sich
darin bewährt, daß sie die Naturen der Menschen wie der
Völker nicht abtödtet, sondern sie zu einer höheren Indivi¬
dualität steigert -- so zeigt sich auch die wahre Kunst darin,
daß sie überall, wo sie aufgenommen wird, ein neues und
eigenthümliches Leben entzündet.

Eine solche Verbindung einheimischer und hellenischer
Kunst ist nur bei den Deutschen vollzogen worden. Andere
Litteraturen haben sich auch unter die Gesetzgebung der Hel¬

Die Kunſt der Hellenen.
fährlich erſcheinen und unheimliche Beſorgniß erwecken. Wir
wollen uns ja doch nicht ſelbſt verlieren, noch auf die beſon¬
dere Berechtigung unſerer Zeit und unſerer Nation verzichten.
Und in der That, wenn die helleniſche Kunſt, mit Begeiſterung
ergriffen, dahin wirkte, daß ſie das Angeborene und Urſprüng¬
liche abtödtete und im beſten Falle keinen anderen Erfolg hätte,
als daß ein eingepfropftes Reis auf fremdem Stamme ein
künſtliches Gedeihen gewönne — ſo hätten wir ein Recht, uns
vor der überwältigenden Macht des helleniſchen Kunſtgeiſtes zu
fürchten. Aber verhält es ſich ſo? Wir Deutſche müſſen dies
beim Rückblick auf unſere Vergangenheit verneinen. Seit ſich
die Kunſt des Mittelalters erſchöpft hat, ſehen wir in unſerer
Poeſie alles Große an das Alterthum ſich anſchließen; ja den
ſeltnen Vorzug einer zwiefachen Zeit klaſſiſcher Schöpfungen
verdankt unſer Vaterland der geiſtigen Berührung mit dem
Alterthume, und die innigſte Verſchmelzung des helleniſchen
und deutſchen Geiſtes bezeichnet nach unſer Aller Einverſtänd¬
niß den Höhepunkt unſerer Litteratur. Die unverwelklichſten
Lorbern ſchlingen ſich um die Dichtungen Goethe's, welche
man eben ſowohl helleniſch wie deutſch nennen könnte, und
anſtatt daß das Urſprüngliche und Nationale in dieſer Ver¬
bindung erdrückt wäre, finden wir gerade in der helleniſch an¬
geregten Zeit zum erſten Male wieder den vollen und tiefen
Inhalt unſers inneren Lebens in die Poeſie hineingetragen
und den zerriſſenen Zuſammenhang mit unſerer germaniſchen
Vorzeit wiederhergeſtellt. Durch Homer ſind wir zu den Nibe¬
lungen gekommen, die Hellenen haben uns zu uns ſelbſt und
zur Natur zurückgeführt. Wie die ewig gültige Religion ſich
darin bewährt, daß ſie die Naturen der Menſchen wie der
Völker nicht abtödtet, ſondern ſie zu einer höheren Indivi¬
dualität ſteigert — ſo zeigt ſich auch die wahre Kunſt darin,
daß ſie überall, wo ſie aufgenommen wird, ein neues und
eigenthümliches Leben entzündet.

Eine ſolche Verbindung einheimiſcher und helleniſcher
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[90/0106] Die Kunſt der Hellenen. fährlich erſcheinen und unheimliche Beſorgniß erwecken. Wir wollen uns ja doch nicht ſelbſt verlieren, noch auf die beſon¬ dere Berechtigung unſerer Zeit und unſerer Nation verzichten. Und in der That, wenn die helleniſche Kunſt, mit Begeiſterung ergriffen, dahin wirkte, daß ſie das Angeborene und Urſprüng¬ liche abtödtete und im beſten Falle keinen anderen Erfolg hätte, als daß ein eingepfropftes Reis auf fremdem Stamme ein künſtliches Gedeihen gewönne — ſo hätten wir ein Recht, uns vor der überwältigenden Macht des helleniſchen Kunſtgeiſtes zu fürchten. Aber verhält es ſich ſo? Wir Deutſche müſſen dies beim Rückblick auf unſere Vergangenheit verneinen. Seit ſich die Kunſt des Mittelalters erſchöpft hat, ſehen wir in unſerer Poeſie alles Große an das Alterthum ſich anſchließen; ja den ſeltnen Vorzug einer zwiefachen Zeit klaſſiſcher Schöpfungen verdankt unſer Vaterland der geiſtigen Berührung mit dem Alterthume, und die innigſte Verſchmelzung des helleniſchen und deutſchen Geiſtes bezeichnet nach unſer Aller Einverſtänd¬ niß den Höhepunkt unſerer Litteratur. Die unverwelklichſten Lorbern ſchlingen ſich um die Dichtungen Goethe's, welche man eben ſowohl helleniſch wie deutſch nennen könnte, und anſtatt daß das Urſprüngliche und Nationale in dieſer Ver¬ bindung erdrückt wäre, finden wir gerade in der helleniſch an¬ geregten Zeit zum erſten Male wieder den vollen und tiefen Inhalt unſers inneren Lebens in die Poeſie hineingetragen und den zerriſſenen Zuſammenhang mit unſerer germaniſchen Vorzeit wiederhergeſtellt. Durch Homer ſind wir zu den Nibe¬ lungen gekommen, die Hellenen haben uns zu uns ſelbſt und zur Natur zurückgeführt. Wie die ewig gültige Religion ſich darin bewährt, daß ſie die Naturen der Menſchen wie der Völker nicht abtödtet, ſondern ſie zu einer höheren Indivi¬ dualität ſteigert — ſo zeigt ſich auch die wahre Kunſt darin, daß ſie überall, wo ſie aufgenommen wird, ein neues und eigenthümliches Leben entzündet. Eine ſolche Verbindung einheimiſcher und helleniſcher Kunſt iſt nur bei den Deutſchen vollzogen worden. Andere Litteraturen haben ſich auch unter die Geſetzgebung der Hel¬

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/106>, abgerufen am 24.11.2024.