jenseit der hellenischen Welt die rückwärts liegende Vergangen¬ heit überblicken, desto freier löst sich von ihr in seinem geschicht¬ lichen Berufe das Volk der Hellenen.
Wir haben also volles Recht von einem hellenischen Staate zu reden, in welchem zuerst die Menschen, von kastenmäßiger Beschränkung frei, sich gegenseitig als Glieder einer sittlichen Lebensordnung anerkannt haben; von einer hellenischen Wissen¬ schaft, in welcher der Gedanke zuerst in selbstbewußter Kraft die Dinge der Außenwelt wie die Gesetze der eigenen Natur ergründet hat, vor Allem aber von einer hellenischen Kunst, der eigenthümlichsten Schöpfung dieses Volks.
Keinem der Völker, welche die Geschichte nennt, fehlt der Keim kunstbildender Thätigkeit, der auf einer gewissen Stufe nationaler Entwickelung wie eine sprossende Naturkraft mit innerer Nothwendigkeit hervortritt. Namentlich war den Völ¬ kern des Alterthums der unbewußte Trieb eingepflanzt, sich in dauerhaften Denkmälern zu bezeugen, deren Wiederentdeckung einst in späten Jahrhunderten die Menschheit über ihre Ver¬ gangenheit belehren sollte. Wer die Schauplätze der alten Geschichte durchwandert, sollte glauben, ihre Völker hätten nichts gethan, als gebaut und gebildet. In seiner vollen Ent¬ faltung erscheint dennoch dieser Trieb erst bei den Griechen; als Hellene hat der Mensch sein schöpferische Thatkraft zuerst nach allen Richtungen hin und durch alle Organe hindurch vollständig erprobt.
Das natürlichste Organ der Kunst ist das Wort, der bild¬ samste Stoff für den Ausdruck des Innern, und weil die Kunst ihrem Wesen nach den Gegensatz des Gebundenen und Unge¬ bundenen verlangt, so ist das durch Maß und Rhythmus ge¬ fesselte Wort das Organ der Kunst, welcher die Griechen den allgemeinen Namen schöpferischer Thätigkeit -- Poesie -- als Ehrennamen verliehen haben. Wie vollständig sich diese Kunst bei ihnen entfaltet habe -- einem Baume gleich, welchem des Jahres Ungunst keine Blüthe und keinen Fruchtkeim verküm¬ mert hat -- das lehrt die Geschichte der hellenischen Dicht¬ kunst, eine Wissenschaft, welche zugleich eine praktische Kunst¬
Die Kunſt der Hellenen.
jenſeit der helleniſchen Welt die rückwärts liegende Vergangen¬ heit überblicken, deſto freier löſt ſich von ihr in ſeinem geſchicht¬ lichen Berufe das Volk der Hellenen.
Wir haben alſo volles Recht von einem helleniſchen Staate zu reden, in welchem zuerſt die Menſchen, von kaſtenmäßiger Beſchränkung frei, ſich gegenſeitig als Glieder einer ſittlichen Lebensordnung anerkannt haben; von einer helleniſchen Wiſſen¬ ſchaft, in welcher der Gedanke zuerſt in ſelbſtbewußter Kraft die Dinge der Außenwelt wie die Geſetze der eigenen Natur ergründet hat, vor Allem aber von einer helleniſchen Kunſt, der eigenthümlichſten Schöpfung dieſes Volks.
Keinem der Völker, welche die Geſchichte nennt, fehlt der Keim kunſtbildender Thätigkeit, der auf einer gewiſſen Stufe nationaler Entwickelung wie eine ſproſſende Naturkraft mit innerer Nothwendigkeit hervortritt. Namentlich war den Völ¬ kern des Alterthums der unbewußte Trieb eingepflanzt, ſich in dauerhaften Denkmälern zu bezeugen, deren Wiederentdeckung einſt in ſpäten Jahrhunderten die Menſchheit über ihre Ver¬ gangenheit belehren ſollte. Wer die Schauplätze der alten Geſchichte durchwandert, ſollte glauben, ihre Völker hätten nichts gethan, als gebaut und gebildet. In ſeiner vollen Ent¬ faltung erſcheint dennoch dieſer Trieb erſt bei den Griechen; als Hellene hat der Menſch ſein ſchöpferiſche Thatkraft zuerſt nach allen Richtungen hin und durch alle Organe hindurch vollſtändig erprobt.
Das natürlichſte Organ der Kunſt iſt das Wort, der bild¬ ſamſte Stoff für den Ausdruck des Innern, und weil die Kunſt ihrem Weſen nach den Gegenſatz des Gebundenen und Unge¬ bundenen verlangt, ſo iſt das durch Maß und Rhythmus ge¬ feſſelte Wort das Organ der Kunſt, welcher die Griechen den allgemeinen Namen ſchöpferiſcher Thätigkeit — Poeſie — als Ehrennamen verliehen haben. Wie vollſtändig ſich dieſe Kunſt bei ihnen entfaltet habe — einem Baume gleich, welchem des Jahres Ungunſt keine Blüthe und keinen Fruchtkeim verküm¬ mert hat — das lehrt die Geſchichte der helleniſchen Dicht¬ kunſt, eine Wiſſenſchaft, welche zugleich eine praktiſche Kunſt¬
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Die Kunſt der Hellenen.
jenſeit der helleniſchen Welt die rückwärts liegende Vergangen¬
heit überblicken, deſto freier löſt ſich von ihr in ſeinem geſchicht¬
lichen Berufe das Volk der Hellenen.
Wir haben alſo volles Recht von einem helleniſchen Staate
zu reden, in welchem zuerſt die Menſchen, von kaſtenmäßiger
Beſchränkung frei, ſich gegenſeitig als Glieder einer ſittlichen
Lebensordnung anerkannt haben; von einer helleniſchen Wiſſen¬
ſchaft, in welcher der Gedanke zuerſt in ſelbſtbewußter Kraft
die Dinge der Außenwelt wie die Geſetze der eigenen Natur
ergründet hat, vor Allem aber von einer helleniſchen Kunſt,
der eigenthümlichſten Schöpfung dieſes Volks.
Keinem der Völker, welche die Geſchichte nennt, fehlt der
Keim kunſtbildender Thätigkeit, der auf einer gewiſſen Stufe
nationaler Entwickelung wie eine ſproſſende Naturkraft mit
innerer Nothwendigkeit hervortritt. Namentlich war den Völ¬
kern des Alterthums der unbewußte Trieb eingepflanzt, ſich in
dauerhaften Denkmälern zu bezeugen, deren Wiederentdeckung
einſt in ſpäten Jahrhunderten die Menſchheit über ihre Ver¬
gangenheit belehren ſollte. Wer die Schauplätze der alten
Geſchichte durchwandert, ſollte glauben, ihre Völker hätten
nichts gethan, als gebaut und gebildet. In ſeiner vollen Ent¬
faltung erſcheint dennoch dieſer Trieb erſt bei den Griechen;
als Hellene hat der Menſch ſein ſchöpferiſche Thatkraft zuerſt
nach allen Richtungen hin und durch alle Organe hindurch
vollſtändig erprobt.
Das natürlichſte Organ der Kunſt iſt das Wort, der bild¬
ſamſte Stoff für den Ausdruck des Innern, und weil die Kunſt
ihrem Weſen nach den Gegenſatz des Gebundenen und Unge¬
bundenen verlangt, ſo iſt das durch Maß und Rhythmus ge¬
feſſelte Wort das Organ der Kunſt, welcher die Griechen den
allgemeinen Namen ſchöpferiſcher Thätigkeit — Poeſie — als
Ehrennamen verliehen haben. Wie vollſtändig ſich dieſe Kunſt
bei ihnen entfaltet habe — einem Baume gleich, welchem des
Jahres Ungunſt keine Blüthe und keinen Fruchtkeim verküm¬
mert hat — das lehrt die Geſchichte der helleniſchen Dicht¬
kunſt, eine Wiſſenſchaft, welche zugleich eine praktiſche Kunſt¬
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/100>, abgerufen am 22.07.2024.
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