Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.LV. Betrachtung. er sagen: man kann es ihnen nicht recht machen, diebesten unschuldigsten Handlungen wissen sie zu schwär- zen und verdächtig zu machen. Allein Jesus ließ sich durch diese scheinheilige und verläumderische Bigotte- rie nicht irre machen, weil er sichs bewußt war, daß er auch von dieser Seite recht und nach guten Grund- sätzen gehandelt habe. Jesus war also kein solcher Feind des gesellschaftlichen Umgangs, daß er alle Er- götzlichkeiten schlechterdings verworfen und verdammt hätte. Er billigte nicht das einsiedlerische Leben der Essäer, die sich von allem gesellschaftlichen Umgange absonderten, und wenn er ihre Entfernung von der Welt für ein Muster eines religiösen Lebens gehal- ten hätte, so würde er sich gewiß in seinen Reden dar- über erklärt haben. Ueberall zeigte er das gute Herz des Menschenfreundes, der sich selbst zur Sinnlich- keit seiner Brüder herabläßt, an ihrer Fröhlichkeit Theil nimmt, und dadurch ihre unschuldigen Ergöz- zungen genehmiget. Ueberall zeigte er eine außeror- dentliche Fühlbarkeit für die kleinste Gefälligkeit, die man ihm im gesellschaftlichen Umgange erwies, und er wußte jeden Dienst, den man ihm leistete, zu schätzen und gefällig zu erwiedern. Auch ich fühle, daß ich zum Umgange mit an- So
LV. Betrachtung. er ſagen: man kann es ihnen nicht recht machen, diebeſten unſchuldigſten Handlungen wiſſen ſie zu ſchwär- zen und verdächtig zu machen. Allein Jeſus ließ ſich durch dieſe ſcheinheilige und verläumderiſche Bigotte- rie nicht irre machen, weil er ſichs bewußt war, daß er auch von dieſer Seite recht und nach guten Grund- ſätzen gehandelt habe. Jeſus war alſo kein ſolcher Feind des geſellſchaftlichen Umgangs, daß er alle Er- götzlichkeiten ſchlechterdings verworfen und verdammt hätte. Er billigte nicht das einſiedleriſche Leben der Eſſäer, die ſich von allem geſellſchaftlichen Umgange abſonderten, und wenn er ihre Entfernung von der Welt für ein Muſter eines religiöſen Lebens gehal- ten hätte, ſo würde er ſich gewiß in ſeinen Reden dar- über erklärt haben. Ueberall zeigte er das gute Herz des Menſchenfreundes, der ſich ſelbſt zur Sinnlich- keit ſeiner Brüder herabläßt, an ihrer Fröhlichkeit Theil nimmt, und dadurch ihre unſchuldigen Ergöz- zungen genehmiget. Ueberall zeigte er eine außeror- dentliche Fühlbarkeit für die kleinſte Gefälligkeit, die man ihm im geſellſchaftlichen Umgange erwies, und er wußte jeden Dienſt, den man ihm leiſtete, zu ſchätzen und gefällig zu erwiedern. Auch ich fühle, daß ich zum Umgange mit an- So
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0390" n="364"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">LV.</hi> Betrachtung.</fw><lb/> er ſagen: man kann es ihnen nicht recht machen, die<lb/> beſten unſchuldigſten Handlungen wiſſen ſie zu ſchwär-<lb/> zen und verdächtig zu machen. Allein Jeſus ließ ſich<lb/> durch dieſe ſcheinheilige und verläumderiſche Bigotte-<lb/> rie nicht irre machen, weil er ſichs bewußt war, daß<lb/> er auch von dieſer Seite recht und nach guten Grund-<lb/> ſätzen gehandelt habe. Jeſus war alſo kein ſolcher<lb/> Feind des geſellſchaftlichen Umgangs, daß er alle Er-<lb/> götzlichkeiten ſchlechterdings verworfen und verdammt<lb/> hätte. Er billigte nicht das einſiedleriſche Leben der<lb/> Eſſäer, die ſich von allem geſellſchaftlichen Umgange<lb/> abſonderten, und wenn er ihre Entfernung von der<lb/> Welt für ein Muſter eines religiöſen Lebens gehal-<lb/> ten hätte, ſo würde er ſich gewiß in ſeinen Reden dar-<lb/> über erklärt haben. Ueberall zeigte er das gute Herz<lb/> des Menſchenfreundes, der ſich ſelbſt zur Sinnlich-<lb/> keit ſeiner Brüder herabläßt, an ihrer Fröhlichkeit<lb/> Theil nimmt, und dadurch ihre unſchuldigen Ergöz-<lb/> zungen genehmiget. Ueberall zeigte er eine außeror-<lb/> dentliche Fühlbarkeit für die kleinſte Gefälligkeit, die<lb/> man ihm im geſellſchaftlichen Umgange erwies, und<lb/> er wußte jeden Dienſt, den man ihm leiſtete, zu<lb/> ſchätzen und gefällig zu erwiedern.</p><lb/> <p>Auch ich fühle, daß ich zum Umgange mit an-<lb/> dern Menſchen geſchaffen bin, und ich lerne als Chriſt<lb/> von meinem Erlöſer, daß ich die Vergnügungen des<lb/> geſelligen Lebens nicht haſſen und gänzlich meiden darf.<lb/> <fw place="bottom" type="catch">So</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [364/0390]
LV. Betrachtung.
er ſagen: man kann es ihnen nicht recht machen, die
beſten unſchuldigſten Handlungen wiſſen ſie zu ſchwär-
zen und verdächtig zu machen. Allein Jeſus ließ ſich
durch dieſe ſcheinheilige und verläumderiſche Bigotte-
rie nicht irre machen, weil er ſichs bewußt war, daß
er auch von dieſer Seite recht und nach guten Grund-
ſätzen gehandelt habe. Jeſus war alſo kein ſolcher
Feind des geſellſchaftlichen Umgangs, daß er alle Er-
götzlichkeiten ſchlechterdings verworfen und verdammt
hätte. Er billigte nicht das einſiedleriſche Leben der
Eſſäer, die ſich von allem geſellſchaftlichen Umgange
abſonderten, und wenn er ihre Entfernung von der
Welt für ein Muſter eines religiöſen Lebens gehal-
ten hätte, ſo würde er ſich gewiß in ſeinen Reden dar-
über erklärt haben. Ueberall zeigte er das gute Herz
des Menſchenfreundes, der ſich ſelbſt zur Sinnlich-
keit ſeiner Brüder herabläßt, an ihrer Fröhlichkeit
Theil nimmt, und dadurch ihre unſchuldigen Ergöz-
zungen genehmiget. Ueberall zeigte er eine außeror-
dentliche Fühlbarkeit für die kleinſte Gefälligkeit, die
man ihm im geſellſchaftlichen Umgange erwies, und
er wußte jeden Dienſt, den man ihm leiſtete, zu
ſchätzen und gefällig zu erwiedern.
Auch ich fühle, daß ich zum Umgange mit an-
dern Menſchen geſchaffen bin, und ich lerne als Chriſt
von meinem Erlöſer, daß ich die Vergnügungen des
geſelligen Lebens nicht haſſen und gänzlich meiden darf.
So
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern:
Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |