Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Betrachtung.
also ganz fehlerfrey, weil man darinne nirgends etwas
anstößiges findet; er war gerade so, wie ihn der Ver-
fasser des Briefs an die Hebräer schildert, nämlich:
heilig, unschuldig, unbefleckt, von den Sündern ab-
gesondert.
*) Nie hatte er etwas Böses geredet
oder gethan; nie war ein Betrug, nie eine Falschheit
in seinem Munde gefunden worden. Sein Leben
war ein schönes Bild der menschlichen Natur in ih-
rer ersten Reinigkeit und Unschuld, wodurch er zeigte,
was die Menschen für vortrefliche Geschöpfe seyn
würden, wenn sie seine Lehre befolgten. Jedoch hier
könnte Jemand sagen: "Jesus Christus war allerdings
von der Sünde frey. Aber er war auch nicht auf
die gewöhnliche Art, sondern durch eine wunderthäti-
ge Wirkung Gottes entsprungen,**) und er hatte
schon dadurch vor allen übrigen Menschen einen sehr
großen, ganz eigenen Vorzug." Dies ist allerdings
wahr. Allein, obgleich Jesus von dem natürlichen
Verderben und von innerer Neigung zur Sünde frey
war, so war er doch so gut, wie andere Menschen, den
äußern Reizungen zum Bösen ausgesetzt. So groß
aber auch diese waren, so gefährlich sie auch für jeden
andern, selbst für den besten und frömmsten, würden
gewesen seyn: so besiegte er sie doch alle mit dem
glücklichsten Erfolg. Waren gleich die Leiden, die er
während seines ganzen Lebens, besonders in den letz-

ten
*) Hebr. 7, 26.
**) Luc. 1, 35.

II. Betrachtung.
alſo ganz fehlerfrey, weil man darinne nirgends etwas
anſtößiges findet; er war gerade ſo, wie ihn der Ver-
faſſer des Briefs an die Hebräer ſchildert, nämlich:
heilig, unſchuldig, unbefleckt, von den Sündern ab-
geſondert.
*) Nie hatte er etwas Böſes geredet
oder gethan; nie war ein Betrug, nie eine Falſchheit
in ſeinem Munde gefunden worden. Sein Leben
war ein ſchönes Bild der menſchlichen Natur in ih-
rer erſten Reinigkeit und Unſchuld, wodurch er zeigte,
was die Menſchen für vortrefliche Geſchöpfe ſeyn
würden, wenn ſie ſeine Lehre befolgten. Jedoch hier
könnte Jemand ſagen: „Jeſus Chriſtus war allerdings
von der Sünde frey. Aber er war auch nicht auf
die gewöhnliche Art, ſondern durch eine wunderthäti-
ge Wirkung Gottes entſprungen,**) und er hatte
ſchon dadurch vor allen übrigen Menſchen einen ſehr
großen, ganz eigenen Vorzug.“ Dies iſt allerdings
wahr. Allein, obgleich Jeſus von dem natürlichen
Verderben und von innerer Neigung zur Sünde frey
war, ſo war er doch ſo gut, wie andere Menſchen, den
äußern Reizungen zum Böſen ausgeſetzt. So groß
aber auch dieſe waren, ſo gefährlich ſie auch für jeden
andern, ſelbſt für den beſten und frömmſten, würden
geweſen ſeyn: ſo beſiegte er ſie doch alle mit dem
glücklichſten Erfolg. Waren gleich die Leiden, die er
während ſeines ganzen Lebens, beſonders in den letz-

ten
*) Hebr. 7, 26.
**) Luc. 1, 35.
<TEI>
  <text>
    <front>
      <div type="preface">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0036" n="10"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> Betrachtung.</fw><lb/>
al&#x017F;o ganz fehlerfrey, weil man darinne nirgends etwas<lb/>
an&#x017F;tößiges findet; er war gerade &#x017F;o, wie ihn der Ver-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;er des Briefs an die Hebräer &#x017F;childert, nämlich:<lb/><hi rendition="#fr">heilig, un&#x017F;chuldig, unbefleckt, von den Sündern ab-<lb/>
ge&#x017F;ondert.</hi><note place="foot" n="*)">Hebr. 7, 26.</note> Nie hatte er etwas Bö&#x017F;es geredet<lb/>
oder gethan; nie war ein Betrug, nie eine Fal&#x017F;chheit<lb/>
in &#x017F;einem Munde gefunden worden. Sein Leben<lb/>
war ein &#x017F;chönes Bild der men&#x017F;chlichen Natur in ih-<lb/>
rer er&#x017F;ten Reinigkeit und Un&#x017F;chuld, wodurch er zeigte,<lb/>
was die Men&#x017F;chen für vortrefliche Ge&#x017F;chöpfe &#x017F;eyn<lb/>
würden, wenn &#x017F;ie &#x017F;eine Lehre befolgten. Jedoch hier<lb/>
könnte Jemand &#x017F;agen: &#x201E;Je&#x017F;us Chri&#x017F;tus war allerdings<lb/>
von der Sünde frey. Aber er war auch nicht auf<lb/>
die gewöhnliche Art, &#x017F;ondern durch eine wunderthäti-<lb/>
ge Wirkung Gottes ent&#x017F;prungen,<note place="foot" n="**)">Luc. 1, 35.</note> und er hatte<lb/>
&#x017F;chon dadurch vor allen übrigen Men&#x017F;chen einen &#x017F;ehr<lb/>
großen, ganz eigenen Vorzug.&#x201C; Dies i&#x017F;t allerdings<lb/>
wahr. Allein, obgleich Je&#x017F;us von dem natürlichen<lb/>
Verderben und von innerer Neigung zur Sünde frey<lb/>
war, &#x017F;o war er doch &#x017F;o gut, wie andere Men&#x017F;chen, den<lb/>
äußern Reizungen zum Bö&#x017F;en ausge&#x017F;etzt. So groß<lb/>
aber auch die&#x017F;e waren, &#x017F;o gefährlich &#x017F;ie auch für jeden<lb/>
andern, &#x017F;elb&#x017F;t für den be&#x017F;ten und frömm&#x017F;ten, würden<lb/>
gewe&#x017F;en &#x017F;eyn: &#x017F;o be&#x017F;iegte er &#x017F;ie doch alle mit dem<lb/>
glücklich&#x017F;ten Erfolg. Waren gleich die Leiden, die er<lb/>
während &#x017F;eines ganzen Lebens, be&#x017F;onders in den letz-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ten</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[10/0036] II. Betrachtung. alſo ganz fehlerfrey, weil man darinne nirgends etwas anſtößiges findet; er war gerade ſo, wie ihn der Ver- faſſer des Briefs an die Hebräer ſchildert, nämlich: heilig, unſchuldig, unbefleckt, von den Sündern ab- geſondert. *) Nie hatte er etwas Böſes geredet oder gethan; nie war ein Betrug, nie eine Falſchheit in ſeinem Munde gefunden worden. Sein Leben war ein ſchönes Bild der menſchlichen Natur in ih- rer erſten Reinigkeit und Unſchuld, wodurch er zeigte, was die Menſchen für vortrefliche Geſchöpfe ſeyn würden, wenn ſie ſeine Lehre befolgten. Jedoch hier könnte Jemand ſagen: „Jeſus Chriſtus war allerdings von der Sünde frey. Aber er war auch nicht auf die gewöhnliche Art, ſondern durch eine wunderthäti- ge Wirkung Gottes entſprungen, **) und er hatte ſchon dadurch vor allen übrigen Menſchen einen ſehr großen, ganz eigenen Vorzug.“ Dies iſt allerdings wahr. Allein, obgleich Jeſus von dem natürlichen Verderben und von innerer Neigung zur Sünde frey war, ſo war er doch ſo gut, wie andere Menſchen, den äußern Reizungen zum Böſen ausgeſetzt. So groß aber auch dieſe waren, ſo gefährlich ſie auch für jeden andern, ſelbſt für den beſten und frömmſten, würden geweſen ſeyn: ſo beſiegte er ſie doch alle mit dem glücklichſten Erfolg. Waren gleich die Leiden, die er während ſeines ganzen Lebens, beſonders in den letz- ten *) Hebr. 7, 26. **) Luc. 1, 35.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/36
Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/36>, abgerufen am 23.11.2024.