Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XLVIII. Betrachtung. mit wüthenden Blicken um ihn her; waren sie gleichoft so sehr erbittert, daß sie ihn steinigen wollten; so re- dete er sie mit Würde und Sanftmuth an: viel gute Werke habe ich euch erzeiget, von meinem Vater, um welches Werk unter denselben steiniget ihr mich?*) Jmmer blieb er liebreich und gelassen, wenn er gleich alle Mittel in den Händen hatte, sich zu rächen, wenn man ihn gleich auf die ungesitteteste Art dazu auffor- derte. Doch den größten Beweis der Sanftmuth und der Mäßigung gab Jesus durch sein Betragen gegen den Judas. Mein Freund, warum bist du kommen? Juda! verräthst du des Menschen Sohn mit einem Kuß?**) Dieses sagte er, und weiter nichts, da der Treulose, als Anführer der Rotte, vor ihm hintrat, die ihn sollte gefangen nehmen; er mach- te dem Nichtswürdigen keine Vorwürfe wegen der ihm erzeigten großen Wohlthaten, wegen des ihm ge- gebenen Unterrichts; kündigte ihm nicht Fluch und Verdammniß an. Wie sehr mußte es Jesum schmer- zen, wie sehr mußte es seinen ganzen Unwillen erre- gen, als er sahe, daß der Mann an ihm zum Verrä- ther wurde, den er nie beleidiget, dem er, als Lehrer und Freund, die größten Wohlthaten erwiesen? als er sahe, daß dieser Falsche den Kuß, das Zeichen der Freundschaft, mißbrauchte, um ihn seinen Feinden recht kenntlich zu machen. Und doch that Jesus wei- ter *) Joh. 10, 32. **) Matth. 26, 50. Luc. 22, 48. U 5
XLVIII. Betrachtung. mit wüthenden Blicken um ihn her; waren ſie gleichoft ſo ſehr erbittert, daß ſie ihn ſteinigen wollten; ſo re- dete er ſie mit Würde und Sanftmuth an: viel gute Werke habe ich euch erzeiget, von meinem Vater, um welches Werk unter denſelben ſteiniget ihr mich?*) Jmmer blieb er liebreich und gelaſſen, wenn er gleich alle Mittel in den Händen hatte, ſich zu rächen, wenn man ihn gleich auf die ungeſitteteſte Art dazu auffor- derte. Doch den größten Beweis der Sanftmuth und der Mäßigung gab Jeſus durch ſein Betragen gegen den Judas. Mein Freund, warum biſt du kommen? Juda! verräthſt du des Menſchen Sohn mit einem Kuß?**) Dieſes ſagte er, und weiter nichts, da der Treuloſe, als Anführer der Rotte, vor ihm hintrat, die ihn ſollte gefangen nehmen; er mach- te dem Nichtswürdigen keine Vorwürfe wegen der ihm erzeigten großen Wohlthaten, wegen des ihm ge- gebenen Unterrichts; kündigte ihm nicht Fluch und Verdammniß an. Wie ſehr mußte es Jeſum ſchmer- zen, wie ſehr mußte es ſeinen ganzen Unwillen erre- gen, als er ſahe, daß der Mann an ihm zum Verrä- ther wurde, den er nie beleidiget, dem er, als Lehrer und Freund, die größten Wohlthaten erwieſen? als er ſahe, daß dieſer Falſche den Kuß, das Zeichen der Freundſchaft, mißbrauchte, um ihn ſeinen Feinden recht kenntlich zu machen. Und doch that Jeſus wei- ter *) Joh. 10, 32. **) Matth. 26, 50. Luc. 22, 48. U 5
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XLVIII. Betrachtung.
mit wüthenden Blicken um ihn her; waren ſie gleich
oft ſo ſehr erbittert, daß ſie ihn ſteinigen wollten; ſo re-
dete er ſie mit Würde und Sanftmuth an: viel gute
Werke habe ich euch erzeiget, von meinem Vater,
um welches Werk unter denſelben ſteiniget ihr mich? *)
Jmmer blieb er liebreich und gelaſſen, wenn er gleich
alle Mittel in den Händen hatte, ſich zu rächen, wenn
man ihn gleich auf die ungeſitteteſte Art dazu auffor-
derte. Doch den größten Beweis der Sanftmuth
und der Mäßigung gab Jeſus durch ſein Betragen
gegen den Judas. Mein Freund, warum biſt du
kommen? Juda! verräthſt du des Menſchen Sohn
mit einem Kuß? **) Dieſes ſagte er, und weiter
nichts, da der Treuloſe, als Anführer der Rotte, vor
ihm hintrat, die ihn ſollte gefangen nehmen; er mach-
te dem Nichtswürdigen keine Vorwürfe wegen der
ihm erzeigten großen Wohlthaten, wegen des ihm ge-
gebenen Unterrichts; kündigte ihm nicht Fluch und
Verdammniß an. Wie ſehr mußte es Jeſum ſchmer-
zen, wie ſehr mußte es ſeinen ganzen Unwillen erre-
gen, als er ſahe, daß der Mann an ihm zum Verrä-
ther wurde, den er nie beleidiget, dem er, als Lehrer
und Freund, die größten Wohlthaten erwieſen? als
er ſahe, daß dieſer Falſche den Kuß, das Zeichen der
Freundſchaft, mißbrauchte, um ihn ſeinen Feinden
recht kenntlich zu machen. Und doch that Jeſus wei-
ter
*) Joh. 10, 32.
**) Matth. 26, 50. Luc. 22, 48.
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