Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

XXXVI. Betrachtung.
wurde, es sogleich anzuzeigen, begab er sich in die
Stadt Ephrem, und hielt sich einige Jahre in den da-
selbst befindlichen Einöden auf.*) Selbst noch die
letzten Tage vor seinem Leiden, wo er wußte, daß er
nun bald sterben würde, blieb er die Nacht über nicht
in Jerusalem, sondern gieng des Abends seiner Sicher-
heit wegen, nach Bethanien. Warum wich nun
Jesus so sorgfältig den Nachstellungen seiner Feinde
aus; warum suchte er seinen Aufenthalt selbst in den
letzten Tagen noch zu verbergen, da er doch wußte,
daß er einmal sterben müsse? War es etwa Furcht
vor dem Tode, die ihn zu dieser Vorsicht bewog?
Nein, die war es nicht, sondern eine wohlgeordnete
Liebe zum Leben. Er wollte sich nicht eher und nicht
früher in die Gewalt seiner Feinde begeben, als bis
die von Gott bestimmte Zeit seines Todes würde da
seyn. Sein Leben war ihm theuer, weil er es zum
Besten der Menschen und zur Vollbringung seines
Werks anwenden konnte. Auch in den letzten Ta-
gen hatte er seinen Jüngern noch viel zu sagen, und
selbst seinen Feinden noch manche wichtige Lehre zu
geben. Man lese nur die letzten rührenden Reden
Jesu, die Johannes vom dreyzehnten bis zum sieb-
zehnten Capitel aufgezeichnet hat; und man wird
bald einsehen, wie viel seine Schüler und wie viel
wir alle verlohren hätten, wenn Jesus auch nur eini-

ge
*) Joh. 11, 54.

XXXVI. Betrachtung.
wurde, es ſogleich anzuzeigen, begab er ſich in die
Stadt Ephrem, und hielt ſich einige Jahre in den da-
ſelbſt befindlichen Einöden auf.*) Selbſt noch die
letzten Tage vor ſeinem Leiden, wo er wußte, daß er
nun bald ſterben würde, blieb er die Nacht über nicht
in Jeruſalem, ſondern gieng des Abends ſeiner Sicher-
heit wegen, nach Bethanien. Warum wich nun
Jeſus ſo ſorgfältig den Nachſtellungen ſeiner Feinde
aus; warum ſuchte er ſeinen Aufenthalt ſelbſt in den
letzten Tagen noch zu verbergen, da er doch wußte,
daß er einmal ſterben müſſe? War es etwa Furcht
vor dem Tode, die ihn zu dieſer Vorſicht bewog?
Nein, die war es nicht, ſondern eine wohlgeordnete
Liebe zum Leben. Er wollte ſich nicht eher und nicht
früher in die Gewalt ſeiner Feinde begeben, als bis
die von Gott beſtimmte Zeit ſeines Todes würde da
ſeyn. Sein Leben war ihm theuer, weil er es zum
Beſten der Menſchen und zur Vollbringung ſeines
Werks anwenden konnte. Auch in den letzten Ta-
gen hatte er ſeinen Jüngern noch viel zu ſagen, und
ſelbſt ſeinen Feinden noch manche wichtige Lehre zu
geben. Man leſe nur die letzten rührenden Reden
Jeſu, die Johannes vom dreyzehnten bis zum ſieb-
zehnten Capitel aufgezeichnet hat; und man wird
bald einſehen, wie viel ſeine Schüler und wie viel
wir alle verlohren hätten, wenn Jeſus auch nur eini-

ge
*) Joh. 11, 54.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0263" n="237"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XXXVI.</hi> Betrachtung.</fw><lb/>
wurde, es &#x017F;ogleich anzuzeigen, begab er &#x017F;ich in die<lb/>
Stadt Ephrem, und hielt &#x017F;ich einige Jahre in den da-<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t befindlichen Einöden auf.<note place="foot" n="*)">Joh. 11, 54.</note> Selb&#x017F;t noch die<lb/>
letzten Tage vor &#x017F;einem Leiden, wo er wußte, daß er<lb/>
nun bald &#x017F;terben würde, blieb er die Nacht über nicht<lb/>
in Jeru&#x017F;alem, &#x017F;ondern gieng des Abends &#x017F;einer Sicher-<lb/>
heit wegen, nach Bethanien. Warum wich nun<lb/>
Je&#x017F;us &#x017F;o &#x017F;orgfältig den Nach&#x017F;tellungen &#x017F;einer Feinde<lb/>
aus; warum &#x017F;uchte er &#x017F;einen Aufenthalt &#x017F;elb&#x017F;t in den<lb/>
letzten Tagen noch zu verbergen, da er doch wußte,<lb/>
daß er einmal &#x017F;terben mü&#x017F;&#x017F;e? War es etwa Furcht<lb/>
vor dem Tode, die ihn zu die&#x017F;er Vor&#x017F;icht bewog?<lb/>
Nein, die war es nicht, &#x017F;ondern eine wohlgeordnete<lb/>
Liebe zum Leben. Er wollte &#x017F;ich nicht eher und nicht<lb/>
früher in die Gewalt &#x017F;einer Feinde begeben, als bis<lb/>
die von Gott be&#x017F;timmte Zeit &#x017F;eines Todes würde da<lb/>
&#x017F;eyn. Sein Leben war ihm theuer, weil er es zum<lb/>
Be&#x017F;ten der Men&#x017F;chen und zur Vollbringung &#x017F;eines<lb/>
Werks anwenden konnte. Auch in den letzten Ta-<lb/>
gen hatte er &#x017F;einen Jüngern noch viel zu &#x017F;agen, und<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;einen Feinden noch manche wichtige Lehre zu<lb/>
geben. Man le&#x017F;e nur die letzten rührenden Reden<lb/>
Je&#x017F;u, die Johannes vom dreyzehnten bis zum &#x017F;ieb-<lb/>
zehnten Capitel aufgezeichnet hat; und man wird<lb/>
bald ein&#x017F;ehen, wie viel &#x017F;eine Schüler und wie viel<lb/>
wir alle verlohren hätten, wenn Je&#x017F;us auch nur eini-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ge</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[237/0263] XXXVI. Betrachtung. wurde, es ſogleich anzuzeigen, begab er ſich in die Stadt Ephrem, und hielt ſich einige Jahre in den da- ſelbſt befindlichen Einöden auf. *) Selbſt noch die letzten Tage vor ſeinem Leiden, wo er wußte, daß er nun bald ſterben würde, blieb er die Nacht über nicht in Jeruſalem, ſondern gieng des Abends ſeiner Sicher- heit wegen, nach Bethanien. Warum wich nun Jeſus ſo ſorgfältig den Nachſtellungen ſeiner Feinde aus; warum ſuchte er ſeinen Aufenthalt ſelbſt in den letzten Tagen noch zu verbergen, da er doch wußte, daß er einmal ſterben müſſe? War es etwa Furcht vor dem Tode, die ihn zu dieſer Vorſicht bewog? Nein, die war es nicht, ſondern eine wohlgeordnete Liebe zum Leben. Er wollte ſich nicht eher und nicht früher in die Gewalt ſeiner Feinde begeben, als bis die von Gott beſtimmte Zeit ſeines Todes würde da ſeyn. Sein Leben war ihm theuer, weil er es zum Beſten der Menſchen und zur Vollbringung ſeines Werks anwenden konnte. Auch in den letzten Ta- gen hatte er ſeinen Jüngern noch viel zu ſagen, und ſelbſt ſeinen Feinden noch manche wichtige Lehre zu geben. Man leſe nur die letzten rührenden Reden Jeſu, die Johannes vom dreyzehnten bis zum ſieb- zehnten Capitel aufgezeichnet hat; und man wird bald einſehen, wie viel ſeine Schüler und wie viel wir alle verlohren hätten, wenn Jeſus auch nur eini- ge *) Joh. 11, 54.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/263
Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/263>, abgerufen am 16.07.2024.