bemerkenswerth, weil er selten aus seiner gleich- müthigen Fassung kam; sie rechtfertigt aber auch die gemäßigte Betrübniß über den Tod der Unsri- gen; sie lehret, daß wir uns der Thränen nicht schämen dürfen, die wir bey ähnlichen Veranlas- sungen vergiessen.
Ja, Gott hat uns allen Wohlwollen und Lie- be zu den Unsrigen ins Herz gepflanzt; ihm können also auch die Thränen nicht mißfallen, die wir über den Verlust unserer Geliebten vergießen. Denn je inniger die Verbindung mit ihnen war, je länger sie dauerte, desto schmerzhafter ist die Trennung von ihnen, desto tiefer verwundet sie unser Herz; es ist, als ob wir einen Theil von uns selbst verlohren hätten. Jch will mich also der Thränen nicht schä- men, die mir der Verlust meiner Freunde und An- verwandten auspreßt, ich will sie da, wo sie eine Ehre der Menschheit sind, ungehindert fließen lassen; denn ich müßte meine Freunde nicht aufrichtig geliebt haben, wenn mir ihr Tod gleichgültig wäre. Hat doch der Menschenfreund Jesus auch am Grabe des Lazarus geweint; daraus sehe ich, daß er nicht Fühllosigkeit von mir fordert, daß ich die Regun- gen der Menschheit nicht gewaltsam unterdrücken darf. Denn gute Menschen sind es werth, daß man ihren Verlust beweinet, sie sind ein zu seltnes
Glück
XXXV. Betrachtung.
bemerkenswerth, weil er ſelten aus ſeiner gleich- müthigen Faſſung kam; ſie rechtfertigt aber auch die gemäßigte Betrübniß über den Tod der Unſri- gen; ſie lehret, daß wir uns der Thränen nicht ſchämen dürfen, die wir bey ähnlichen Veranlaſ- ſungen vergieſſen.
Ja, Gott hat uns allen Wohlwollen und Lie- be zu den Unſrigen ins Herz gepflanzt; ihm können alſo auch die Thränen nicht mißfallen, die wir über den Verluſt unſerer Geliebten vergießen. Denn je inniger die Verbindung mit ihnen war, je länger ſie dauerte, deſto ſchmerzhafter iſt die Trennung von ihnen, deſto tiefer verwundet ſie unſer Herz; es iſt, als ob wir einen Theil von uns ſelbſt verlohren hätten. Jch will mich alſo der Thränen nicht ſchä- men, die mir der Verluſt meiner Freunde und An- verwandten auspreßt, ich will ſie da, wo ſie eine Ehre der Menſchheit ſind, ungehindert fließen laſſen; denn ich müßte meine Freunde nicht aufrichtig geliebt haben, wenn mir ihr Tod gleichgültig wäre. Hat doch der Menſchenfreund Jeſus auch am Grabe des Lazarus geweint; daraus ſehe ich, daß er nicht Fühlloſigkeit von mir fordert, daß ich die Regun- gen der Menſchheit nicht gewaltſam unterdrücken darf. Denn gute Menſchen ſind es werth, daß man ihren Verluſt beweinet, ſie ſind ein zu ſeltnes
Glück
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XXXV. Betrachtung.
bemerkenswerth, weil er ſelten aus ſeiner gleich-
müthigen Faſſung kam; ſie rechtfertigt aber auch
die gemäßigte Betrübniß über den Tod der Unſri-
gen; ſie lehret, daß wir uns der Thränen nicht
ſchämen dürfen, die wir bey ähnlichen Veranlaſ-
ſungen vergieſſen.
Ja, Gott hat uns allen Wohlwollen und Lie-
be zu den Unſrigen ins Herz gepflanzt; ihm können
alſo auch die Thränen nicht mißfallen, die wir über
den Verluſt unſerer Geliebten vergießen. Denn je
inniger die Verbindung mit ihnen war, je länger
ſie dauerte, deſto ſchmerzhafter iſt die Trennung von
ihnen, deſto tiefer verwundet ſie unſer Herz; es
iſt, als ob wir einen Theil von uns ſelbſt verlohren
hätten. Jch will mich alſo der Thränen nicht ſchä-
men, die mir der Verluſt meiner Freunde und An-
verwandten auspreßt, ich will ſie da, wo ſie eine
Ehre der Menſchheit ſind, ungehindert fließen laſſen;
denn ich müßte meine Freunde nicht aufrichtig geliebt
haben, wenn mir ihr Tod gleichgültig wäre. Hat
doch der Menſchenfreund Jeſus auch am Grabe
des Lazarus geweint; daraus ſehe ich, daß er nicht
Fühlloſigkeit von mir fordert, daß ich die Regun-
gen der Menſchheit nicht gewaltſam unterdrücken
darf. Denn gute Menſchen ſind es werth, daß
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Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/254>, abgerufen am 22.11.2024.
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