vermied er mit Fleiß, ihnen etwas zu erklären, was sie noch nicht fassen konnten,*) oder er verschob die nähere Erklärung bis zu seinen Abschiedsreden,**) ob er ihnen gleich auch da noch nicht alles klar und deut- lich machen konnte, welches man offenbar sieht, wenn er spricht: Jch habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnet es jetzt nicht tragen,***) d. i. eure schwa- chen Einsichten erlauben euch das noch nicht zu fassen. Vieles, was seine Person und seine göttliche Sen- dung betraf, überließ er ihrem eigenen Nachdenken, und untersuchte nur bisweilen, wie weit sie in ihrer Erkenntniß gekommen wären. Eben so eröfnete er ihnen bey der ersten Bekanntschaft nicht gleich seine Geschäfte und Schicksale, weil sie dazu nicht hinläng- lich vorbereitet waren.
An seinem Beyspiele lernen wir also, daß die Wahrheit ein Schatz ist, den man nur denen in die Hände geben muß, die ihn nicht mißbrauchen, son- dern gut anwenden. An seinem Beyspiele lernen wir, daß es Fälle giebt, wo der aufrichtigste, offen- herzigste Mensch die Wahrheit zurückhalten muß. Oft werden wir im gesellschaftlichen Leben mit Per- sonen bekannt, die sich ein eigenes Geschäfte daraus machen, nach vielen Dingen zu forschen, die sie gar nichts angehen, Fragen an uns zu bringen, wozu sie gar nicht berechtiget sind, und die mit ihrer unzeiti-
gen
*) Marc. 19, 10. 11.
**) Joh. 16, 4.
***) Joh. 16. 12.
XXX. Betrachtung.
vermied er mit Fleiß, ihnen etwas zu erklären, was ſie noch nicht faſſen konnten,*) oder er verſchob die nähere Erklärung bis zu ſeinen Abſchiedsreden,**) ob er ihnen gleich auch da noch nicht alles klar und deut- lich machen konnte, welches man offenbar ſieht, wenn er ſpricht: Jch habe euch noch viel zu ſagen, aber ihr könnet es jetzt nicht tragen,***) d. i. eure ſchwa- chen Einſichten erlauben euch das noch nicht zu faſſen. Vieles, was ſeine Perſon und ſeine göttliche Sen- dung betraf, überließ er ihrem eigenen Nachdenken, und unterſuchte nur bisweilen, wie weit ſie in ihrer Erkenntniß gekommen wären. Eben ſo eröfnete er ihnen bey der erſten Bekanntſchaft nicht gleich ſeine Geſchäfte und Schickſale, weil ſie dazu nicht hinläng- lich vorbereitet waren.
An ſeinem Beyſpiele lernen wir alſo, daß die Wahrheit ein Schatz iſt, den man nur denen in die Hände geben muß, die ihn nicht mißbrauchen, ſon- dern gut anwenden. An ſeinem Beyſpiele lernen wir, daß es Fälle giebt, wo der aufrichtigſte, offen- herzigſte Menſch die Wahrheit zurückhalten muß. Oft werden wir im geſellſchaftlichen Leben mit Per- ſonen bekannt, die ſich ein eigenes Geſchäfte daraus machen, nach vielen Dingen zu forſchen, die ſie gar nichts angehen, Fragen an uns zu bringen, wozu ſie gar nicht berechtiget ſind, und die mit ihrer unzeiti-
gen
*) Marc. 19, 10. 11.
**) Joh. 16, 4.
***) Joh. 16. 12.
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XXX. Betrachtung.
vermied er mit Fleiß, ihnen etwas zu erklären, was
ſie noch nicht faſſen konnten, *) oder er verſchob die
nähere Erklärung bis zu ſeinen Abſchiedsreden, **) ob
er ihnen gleich auch da noch nicht alles klar und deut-
lich machen konnte, welches man offenbar ſieht, wenn
er ſpricht: Jch habe euch noch viel zu ſagen, aber
ihr könnet es jetzt nicht tragen, ***) d. i. eure ſchwa-
chen Einſichten erlauben euch das noch nicht zu faſſen.
Vieles, was ſeine Perſon und ſeine göttliche Sen-
dung betraf, überließ er ihrem eigenen Nachdenken,
und unterſuchte nur bisweilen, wie weit ſie in ihrer
Erkenntniß gekommen wären. Eben ſo eröfnete er
ihnen bey der erſten Bekanntſchaft nicht gleich ſeine
Geſchäfte und Schickſale, weil ſie dazu nicht hinläng-
lich vorbereitet waren.
An ſeinem Beyſpiele lernen wir alſo, daß die
Wahrheit ein Schatz iſt, den man nur denen in die
Hände geben muß, die ihn nicht mißbrauchen, ſon-
dern gut anwenden. An ſeinem Beyſpiele lernen
wir, daß es Fälle giebt, wo der aufrichtigſte, offen-
herzigſte Menſch die Wahrheit zurückhalten muß.
Oft werden wir im geſellſchaftlichen Leben mit Per-
ſonen bekannt, die ſich ein eigenes Geſchäfte daraus
machen, nach vielen Dingen zu forſchen, die ſie gar
nichts angehen, Fragen an uns zu bringen, wozu ſie
gar nicht berechtiget ſind, und die mit ihrer unzeiti-
gen
*) Marc. 19, 10. 11.
**) Joh. 16, 4.
***) Joh. 16. 12.
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Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/224>, abgerufen am 16.02.2025.
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