Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XXVIII. Betrachtung. nahm er nicht die mühsamsten Reisen, um Elendeaufzusuchen? war ers nicht, von dem seine Schüler sagten: er ist umhergezogen, und hat wohlgethan und gesund gemacht alle, die vom Teufel überwälti- get waren?*) Gieng er ihnen nicht mit seiner Hül- fe entgegen, ohne sich erst lange bitten zu lassen? Heilte er nicht oft Unbekannte, wenn ihre Bedürf- nisse dringend waren? Nannten nicht viel Tausende ihn ihren Erretter, sahen sie nicht in ihm einen Engel Gottes, der zu ihrem Besten gesandt war? Nie ver- langte er, daß man erst eine seiner Wohlthaten ver- dienen, erkaufen oder bezahlen sollte; nie suchte er im Empfangen, sondern lediglich im Geben und Hel- fen seine Glückseligkeit; nie weigerte er sich, das zu verwilligen, warum man ihn bat, so bald es nur an sich selbst nichts Böses war; ja er eilte dem Hülflo- sen ungebeten entgegen, und kam oft dem Elenden mit Liebe zuvor. Nie floß ein Tag ohne die schönen Uebungen der Wohlthätigkeit dahin; nie gieng er ohne die Empfindungen des Mitleidens vor einem Unglücklichen vorüber; nie hat ihn ein Elender ohne Hülfe angesprochen. Wohlthaten konnten ihm sei- ne Feinde am Kreuze vorwerfen,**) aber keine Ver- gehungen, denn sein wohlthätiges Bruderherz schlug für alle Menschen, und verblutete sich auch für sie. Willst *) Ap. Gesch. 10, 38. **) Matth. 26, 42. M 3
XXVIII. Betrachtung. nahm er nicht die mühſamſten Reiſen, um Elendeaufzuſuchen? war ers nicht, von dem ſeine Schüler ſagten: er iſt umhergezogen, und hat wohlgethan und geſund gemacht alle, die vom Teufel überwälti- get waren?*) Gieng er ihnen nicht mit ſeiner Hül- fe entgegen, ohne ſich erſt lange bitten zu laſſen? Heilte er nicht oft Unbekannte, wenn ihre Bedürf- niſſe dringend waren? Nannten nicht viel Tauſende ihn ihren Erretter, ſahen ſie nicht in ihm einen Engel Gottes, der zu ihrem Beſten geſandt war? Nie ver- langte er, daß man erſt eine ſeiner Wohlthaten ver- dienen, erkaufen oder bezahlen ſollte; nie ſuchte er im Empfangen, ſondern lediglich im Geben und Hel- fen ſeine Glückſeligkeit; nie weigerte er ſich, das zu verwilligen, warum man ihn bat, ſo bald es nur an ſich ſelbſt nichts Böſes war; ja er eilte dem Hülflo- ſen ungebeten entgegen, und kam oft dem Elenden mit Liebe zuvor. Nie floß ein Tag ohne die ſchönen Uebungen der Wohlthätigkeit dahin; nie gieng er ohne die Empfindungen des Mitleidens vor einem Unglücklichen vorüber; nie hat ihn ein Elender ohne Hülfe angeſprochen. Wohlthaten konnten ihm ſei- ne Feinde am Kreuze vorwerfen,**) aber keine Ver- gehungen, denn ſein wohlthätiges Bruderherz ſchlug für alle Menſchen, und verblutete ſich auch für ſie. Willſt *) Ap. Geſch. 10, 38. **) Matth. 26, 42. M 3
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XXVIII. Betrachtung.
nahm er nicht die mühſamſten Reiſen, um Elende
aufzuſuchen? war ers nicht, von dem ſeine Schüler
ſagten: er iſt umhergezogen, und hat wohlgethan
und geſund gemacht alle, die vom Teufel überwälti-
get waren? *) Gieng er ihnen nicht mit ſeiner Hül-
fe entgegen, ohne ſich erſt lange bitten zu laſſen?
Heilte er nicht oft Unbekannte, wenn ihre Bedürf-
niſſe dringend waren? Nannten nicht viel Tauſende
ihn ihren Erretter, ſahen ſie nicht in ihm einen Engel
Gottes, der zu ihrem Beſten geſandt war? Nie ver-
langte er, daß man erſt eine ſeiner Wohlthaten ver-
dienen, erkaufen oder bezahlen ſollte; nie ſuchte er
im Empfangen, ſondern lediglich im Geben und Hel-
fen ſeine Glückſeligkeit; nie weigerte er ſich, das zu
verwilligen, warum man ihn bat, ſo bald es nur an
ſich ſelbſt nichts Böſes war; ja er eilte dem Hülflo-
ſen ungebeten entgegen, und kam oft dem Elenden
mit Liebe zuvor. Nie floß ein Tag ohne die ſchönen
Uebungen der Wohlthätigkeit dahin; nie gieng er
ohne die Empfindungen des Mitleidens vor einem
Unglücklichen vorüber; nie hat ihn ein Elender ohne
Hülfe angeſprochen. Wohlthaten konnten ihm ſei-
ne Feinde am Kreuze vorwerfen, **) aber keine Ver-
gehungen, denn ſein wohlthätiges Bruderherz ſchlug
für alle Menſchen, und verblutete ſich auch für ſie.
Willſt
*) Ap. Geſch. 10, 38.
**) Matth. 26, 42.
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